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„Das Thema Auswanderung spielt eine immer größere Rolle“



Fünf Menschen aus der Wirtschaft berichten, wie sie auf das Erstarken der AfD blicken und was der Aufstieg der Rechten für sie persönlich bedeutet.

von Teresa Stiens und Clara Thier 30.08.2024 - 15.00 Uhr



Düsseldorf. Aktuell könnte fast jede dritte Stimme bei den bevorstehenden Landtagswahlen an die AfD gehen. Auch bundesweit sympathisiert jeder Fünfte bis Sechste mit der Partei, deutlich mehr als die zehn Prozent, die noch bei der Bundestagswahl 2021 für die Rechtspopulisten gestimmt haben. Nun könnte die Debatte nach der Messerattacke in Solingen Rechtspopulisten und Rechtsextremen erneut Auftrieb verschaffen.

Doch es gibt auch Gegenwind. Dieses Jahr gingen bereits Hunderttausende Menschen gegen rechts auf die Straße, um gegen den Rechtsruck und Pläne zur „Remigration“ zu protestieren. In Solingen gab es vergangenes Wochenende eine Gegendemo zu der Veranstaltung der als gesichert rechtsextrem eingestuften „Jungen Alternative“. Und auch in der Wirtschaft stehen immer mehr öffentlich für ihre Werte ein ‒ aber nicht alle von ihnen sind gleichermaßen bedroht vom Erstarken der Rechten.

Das Handelsblatt hat mit fünf Menschen aus der Arbeitswelt gesprochen, die ihre Perspektive auf den aktuellen Rechtsruck schildern. Sie alle gelten auf unterschiedliche Art und Weise als Feindbild der Rechten. Je nachdem, wo sie oder ihre Eltern herkommen, wen sie lieben oder wofür sie sich politisch engagieren.

Wir glauben, dass Unternehmen sehr wohl politisch sind und sich viel stärker positionieren sollten.

Sylvia Pfefferkorn

Unternehmerin aus Dresden









Ich habe 24 Jahre in einer Diktatur gelebt. Seit dem Mauerfall ist Freiheit mein höchster Wert. Diese Freiheit und die demokratischen Grundwerte in Deutschland möchte ich schützen. Deshalb haben wir 2016 zusammen mit neun Unternehmern den Verein „Wirtschaft für ein weltoffenes Sachsen“ gegründet. Damals gab es einige rechtsextreme Ausschreitungen in mehreren Städten, und wir wollten diesem negativen Bild etwas Positives entgegensetzen. Unser Kernanliegen ist die Positionierung für demokratische Grundwerte, Weltoffenheit und Willkommenskultur. Inzwischen engagieren sich 140 Mitglieder bei uns im Verband.

Natürlich machen wir uns Sorgen im Hinblick auf die anstehenden Landtagswahlen oder die Ergebnisse der Europa- und Kommunalwahl. Die Befürchtung, dass rechtsextreme Parteien noch mehr Zulauf erhalten, ist da, aber wir schauen mit Zuversicht auf die Landtagswahlen.

Wir konzentrieren uns auf das Mutmachen und adressieren die wirtschaftliche Erfolgsstory, die Sachsen vorzuweisen hat.

Ein IT-Unternehmen in Dresden hat zum Beispiel 80 Prozent internationale Mitarbeiter. Ihnen bieten wir Workshops und andere Formate an, um die Zivilcourage zu fördern und Hilfe anzubieten. Dass Beschäftigte Rassismus erfahren, passiert leider – nicht nur in Sachsen.

Früher sind wir in ein Unternehmen gegangen und haben dort als Externe unser festes Programm durchgezogen. Dann aber haben wir gelernt, dass es viel mehr bringt, Multiplikatoren in den Betrieben zu entwickeln, die das Thema weitertragen. Die Unternehmen sind oft überrascht, wie viele aus der Belegschaft sich engagieren wollen, wenn sie intern nach Botschaftern für Demokratie suchen.

Seit einem Jahr werden unsere Angebote zur politischen Bildung in Unternehmen sehr stark nachgefragt, was sicher auch an der politischen Situation liegt. Wir glauben, dass Unternehmen sehr wohl politisch sind und sich viel stärker positionieren sollten. Gerade die 70 Prozent der Belegschaft, die nicht rechts wählen, fühlen sich sehr bestärkt, wenn man Themen wie Rassismus und Zivilcourage offen anspricht.

Mehr: Thüringer Wirtschaft und AfD auf Konfrontationskurs

Selbst unter den 30 Prozent, die AfD wählen, sind mehr als die Hälfte Wankelmütige, die vielleicht im Moment wütend oder unzufrieden sind. Die kann man im Diskurs erreichen, wenn man die Argumente ernst nimmt und sich damit auseinandersetzt. Der Austausch am Kantinentisch ist eben doch wichtig, denn man kann Politik nicht aus der Arbeit heraushalten.

Wir werden oft gefragt: „Was macht ihr nach den Landtagswahlen?“ Da sagen wir: Wir werden noch lauter. Wir sind ein Verein für Willkommenskultur und einen guten Standort. Sollte die AfD in Sachsen eine stärkere Rolle spielen, werden wir uns weiter engagieren. Bisher gelingt das ganz gut. Wir sind in diesem Jahr schon 47 Prozent gewachsen.

Sylvia Pfefferkorn (58 Jahre) ist stellvertretende Vorstandssprecherin des Vereins „Wirtschaft für ein weltoffenes Sachsen". Der Verein besteht aus verschiedenen sächsischen Unternehmen und bietet unter anderem Hilfe für die Integration von Fachkräften aus dem Ausland an. Die Dresdenerin engagiert sich seit vielen Jahren für Integration und Inklusion.

Viele Juden haben ihre Koffer wieder gepackt.

Guy Katz

Professor









Meine Familie kommt aus Israel, aber wir haben schon als Kinder hier in Deutschland gewohnt, weil mein Vater Diplomat war. Ich konnte also schon ein bisschen Deutsch und bin dann zurückgekommen, um hier zu studieren. Ich bin hiergeblieben, habe meinen Bachelor, Master und Doktor an der Ludwig-Maximilians-Universität gemacht und fühle mich sehr wohl in München und in Bayern. Ich war schon immer stolz darauf, wo ich herkomme und wer ich bin. Hier leben nur noch sehr wenige jüdische Menschen, weshalb die meisten Deutschen leider keine Juden mehr persönlich kennen. Wir sind also alle, ob wir es wollen oder nicht, eine Art inoffizieller Botschafter unserer Religion.

Seit dem 7. Oktober hat sich einiges verändert in der Welt – auch in Deutschland.

Ich selbst habe keine Angst, aber meinen Sohn habe ich gebeten, seinen Davidstern nicht mehr offen zu tragen. Wenn ich zu einer Demonstration gegen Antisemitismus und für die Freilassung der israelischen Geiseln gehe, dauert es nicht mal fünf Minuten, bis ich beschimpft werde – das ist leider sehr normal geworden. Neulich hat mir einer online gewünscht, dass ich vergast werde. Deswegen verstehe ich auch die Menschen, die ihr Jüdischsein verstecken.

Ein großer Teil der Hetze ist islamistischer Antisemitismus, und wir erleben auch sehr viel Anfeindung von links. Die AfD verhält sich in der aktuellen Situation nach dem Motto: „Der Feind meines Feindes ist mein Freund.“ Die Partei versucht sich gerade als Freund Israels und als eher gemäßigt zu verkaufen. Aber ich glaube nicht, dass die AfD uns jemals wirklich gemocht hat. Ich arbeite für diesen Staat als Professor, und wenn dieser Staat einmal von der AfD regiert wird, müsste ich mir genau überlegen, was das für mich heißt.

Ich habe die doppelte Staatsbürgerschaft und würde meinen israelischen Pass nie zurückgeben. Die Juden brauchen einen sicheren Ort auf dieser Welt, und letzten Endes ist dieser Ort Israel. Ich habe nicht vor, Deutschland zu verlassen, aber es gibt Szenarien, in denen ich gegebenenfalls zurückreisen würde. Etwa, wenn hier die Islamisten an die Macht kommen – in einem Kalifat will ich sicher nicht leben.

Die Präsidentin unserer Gemeinde hier in München, Charlotte Knobloch, hat mal gesagt, dass die Juden in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg immer auf gepackten Koffern gesessen haben. Erst 2006 habe sie beschlossen, ihre Koffer endlich auszupacken. Momentan nimmt der Antisemitismus in Deutschland wieder deutlich zu. Viele Juden haben ihre Koffer wieder gepackt.

Guy Katz (42) ist Professor für Internationale Unternehmensführung an der Hochschule München. Er kam 2004 von Israel nach Deutschland und lebt seitdem mit seiner Familie in Bayern. Er hat in und für diverse kleine und große Unternehmen im Vertrieb und in der Beratung gearbeitet. Zuvor war er Nachrichtenoffizier beim israelischen Militär.

Ich habe Angst um die Zukunft dieses Landes.

Burak Yilmaz

Autor









Ich muss mich täglich mit den Aussagen der AfD auseinandersetzen, sei es in den sozialen Medien oder in Gesprächen mit Bekannten und Fremden. Die Grenze des Sagbaren hat sich stark verschoben. Das merke ich auch in meinen Fortbildungen mit Schulklassen oder Unternehmen. Dort begegnen mir oft diskriminierende Aussagen, die immer selbstbewusster geäußert werden. Vor zehn Jahren war das noch anders. Aber heute fühlen sich Menschen, die AfD wählen, in ihrer Meinung bestätigt.

Ich habe Angst um die Zukunft dieses Landes. Wir hatten vergangenes Jahr einen Anstieg rassistischer Gewalt um über 100 Prozent. Wenn das in den nächsten drei Jahren so weitergeht, stehen wir irgendwann gesellschaftlich an einem Kipppunkt, an dem Rechtsextreme diese Gesellschaft übernehmen werden.

Nicht nur ich, auch mein Freundeskreis macht sich angesichts des Rechtsrucks ernsthafte Gedanken über unsere Zukunft hier.

Wir fragen uns, was passiert, wenn bei der übernächsten Bundestagswahl Björn Höcke Bundeskanzler wird. Auch das Thema Auswanderung spielt eine immer größere Rolle. Wie und wohin könnte ich mit meiner Familie fliehen? Haben wir genug Geld beiseitegelegt? Haben wir Kontakte im Ausland, die wir nutzen können? Solche Gedankenspiele sind für uns Realität. Wir wollen auf den schlimmsten Fall vorbereitet sein.

Besonders besorgniserregend ist für mich, dass die AfD in kleineren Kommunen ihre Macht nutzt, um die Jugendförderung oder Gedenkstättenarbeit anzugreifen. Auch meine eigene Arbeit wird durch die AfD massiv erschwert. Ich bin quasi ihre Zielscheibe. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, täglich Hassnachrichten zu erhalten. Wenn ich für Lesungen oder Workshops durch Regionen in Deutschland mit hoher AfD-Präsenz reise, fühle ich mich unsicher. Anders ist das in meiner Heimat im Ruhrgebiet, wo Migration eine lange Tradition hat.

Mehr: Kommentar: Höckes Attacke gegen den Mittelstand zeigt sein krudes Weltbild

Als Theaterpädagoge habe ich fünf Jahre lang mit inhaftierten Neonazis gearbeitet und kenne ihre Ideologie teils besser als sie selbst. Ich weiß, dass Radikalisierung wie ein Rausch ist und sich wie ein Feuer verbreiten kann. In komplexen Krisenzeiten entscheiden sich viele für vereinfachte Antworten und suchen einen klaren Sündenbock, anstatt mit Vertrauten ihre Gefühle zu teilen und gemeinschaftlich nach Lösungen zu suchen.

Was können wir also tun? Ich habe die meiste Zeit meines Lebens in der politischen Bildung gearbeitet, aber Bildung allein wird uns nicht retten. Es geht vielmehr darum, Teilhabe zu schaffen und Armut zu bekämpfen, um Frustration und einfache Antworten zu vermeiden. Wir brauchen eine klare Haltung gegen rechts und eine progressive, mutige Politik. Besonders wichtig finde ich Geschichten von Menschen, die Zivilcourage zeigen, wie Schüler, die AGs gründen, oder Initiativen wie „Omas gegen rechts“.

Erst letzte Woche hatte ich ein sehr inspirierendes Erlebnis in einem Bus in Duisburg. Da saß eine schwarze Frau mit ihren drei Kindern, ein Mann ist eingestiegen und hat sie sehr rassistisch beleidigt. Die Busfahrerin hat sofort reagiert. Sie hat angehalten, die Türen aufgemacht und gesagt: „Steigen Sie aus, so jemanden will ich nicht im Bus haben.“ Als der Mann ausgestiegen ist, haben alle geklatscht. Solche Momente zeigen mir, dass Zivilcourage möglich ist.

Burak Yilmaz (36) ist selbstständiger Autor. Der gelernte Sozialpädagoge ist als Kind türkisch-kurdischer Eltern in Duisburg-Marxloh aufgewachsen. Yilmaz bietet Workshops an und hält Vorträge zu den Themen Erinnerungskultur, Islamismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus. Er ist Autor des Buches „Ehrensache: Kämpfen gegen Judenhass“ und Träger des Bundesverdienstkreuzes.

Werte dürfen keine politische Frage sein.

Til Klein

Investor









Glücklicherweise habe ich bisher als schwuler Unternehmer und Investor aufgrund meiner sexuellen Orientierung keine Diskriminierung, Benachteiligung oder Hass erfahren. Mir ist jedoch sehr bewusst, dass dies ein Privileg ist und keineswegs selbstverständlich. Leider habe ich den Eindruck, dass dieses Privileg zunehmend bedroht ist.

Der Aufstieg der AfD reflektiert einen Stimmungswandel, der die bisher von der breiten Mehrheit aller politischen Lager anerkannten Werte wie Respekt, Toleranz und Vielfalt infrage stellt. In Deutschland sind Rassismus, Antisemitismus und Homophobie zunehmend salonfähig geworden. Ich sehe das besonders in den sozialen Medien, wo hasserfüllte Kommentare offen mit Klarnamen gepostet werden.

In einem Unternehmen würde man von einer toxischen Kultur sprechen. Diese Kultur zeigt sich darin, dass grundlegende Werte wie Respekt und Toleranz nicht mehr die uneingeschränkte Basis des Miteinanders bilden. Während ich ein toxisches Arbeitsumfeld relativ leicht verlassen kann, ist das bei einem Land weitaus schwieriger.

Es geht jedoch um mehr als mein persönliches Privileg. Die Start-up-Szene in Deutschland ist ohne eine offene und vielfältige Gesellschaft nicht denkbar. Daher gefährden wir nicht nur die soziale Kohärenz, sondern auch die Zukunftsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes.

Gerade als Gründer und Investoren sind wir gefordert, uns für eine offene Gesellschaft einzusetzen. Wenn es um Werte geht, dürfen wir das Feld nicht den Populisten überlassen. Oft höre ich von Gründern und Investoren, dass ihnen Vielfalt wichtig ist, sie sich jedoch nicht politisch exponieren wollen. In einer Demokratie ist es verständlich, dass Unternehmen politisch neutral bleiben möchten, aber wenn es um grundlegende Werte wie Toleranz und Respekt geht, müssen wir aktiv werden. Werte dürfen keine politische Frage sein.

In der Start-up-Welt, in der ich mich bewege, war es bisher selbstverständlich, sich Unternehmenswerte wie Vielfalt auf die Fahne zu schreiben.

Das war in den letzten Jahren auch relativ einfach, da diese Werte allgemein akzeptiert und unstrittig waren. Doch die gesellschaftliche Stimmung hat sich verändert, und diese Werte sind ernsthaft bedroht. Jetzt zeigt sich, ob Unternehmenswerte tatsächlich ernst genommen werden oder nur Lippenbekenntnisse sind.

Egal, ob Gründer, Investor oder Manager – als Führungskraft kommt uns dabei eine wichtige Rolle zu, da wir persönlich für diese Werte stehen und als Vorbilder agieren. Die Verantwortung für diese Werte ist daher nicht mehr nur noch meine persönliche Angelegenheit, sondern Bestandteil meiner Führungsrolle und der damit verbundenen gesellschaftlichen Verantwortung. Gerade jetzt brauchen wir mehr Führungskräfte, die sich öffentlich für eine offene Gesellschaft einsetzen und bereit sind, sich gegebenenfalls zu ihrer sexuellen Orientierung zu bekennen.

Mein Privileg betrachte ich daher auch als Verpflichtung, mich für den Erhalt einer offenen Gesellschaft einzusetzen. Ich hoffe, damit meinen Beitrag dazu zu leisten, dass Respekt, Toleranz und Vielfalt weiterhin die Grundlage unserer Gesellschaft bilden und sich die toxische Kultur, für die die AfD steht, nicht durchsetzt.

Til Klein (50) ist Investor und Gründer des Wagniskapitalfonds „identity.vc“. Der Fonds investiert ausschließlich in Start-ups queerer Gründer und Gründerinnen.

Ich merke, dass sich etwas in der Gesellschaft verändert hat.

Siddik Turhalli

Investor und Dozent









Ich bin gebürtiger Kurde und komme aus Diyarbakir, das liegt in der Südosttürkei. Mein Vater ist in den 1990er-Jahren nach Ägypten geflohen und dann nach Deutschland gekommen. Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen, bis mich meine Eltern 2001 nach Deutschland geholt haben und wir in Rostock Asyl beantragt haben. Für mich war das eine große Herausforderung, in einer komplett neuen Kultur anzukommen. Ich habe tolle Erinnerungen an die Zeit in Rostock, aber wir haben auch Anfeindungen erlebt. Einmal haben wir telefoniert, als Rechtsextreme gegen die Telefonzelle getreten und gespuckt haben.

Wir sind nach Dortmund gezogen, wo ich mein Abitur gemacht habe. Ich habe Wirtschaft studiert und schließlich meinen Master an der Otto Beisheim School of Management (WHU) gemacht. Dabei habe ich mich nie in den Gedanken hineinvertieft, dass ich nicht die gleichen Chancen habe wie alle anderen. Ich wollte immer einfach meinen Weg gehen.

Ich merke, dass sich seit 2016, als viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, etwas in der Gesellschaft verändert hat. Die Leute trauen sich, auszusprechen, was sie denken. Im Arbeitskontext behandeln mich die Menschen auf Augenhöhe. Aber was ist, wenn ich am Sonntagmorgen in Jogginghose und Kapuzenpulli zum Bäcker gehe? Dann ist diese Augenhöhe nicht da. Dieses Gefühl hat sich verstärkt in den letzten Jahren. Mich haben sowohl der Mord an einem Polizisten in Mannheim als auch das Attentat von Hanau sehr schockiert.

Jedes Opfer von Extremismus macht mich sehr traurig und löst das gleiche negative Gefühl in mir aus.

Ich habe drei Abschlüsse und eine relativ erfolgreiche Karriere in der Privatwirtschaft. Aber jetzt ist zum ersten Mal der Zeitpunkt, an dem ich über Benachteiligung nachdenke. Wenn die AfD an die Macht käme, würde ich erst mal abwarten. Ich möchte dieses Land nicht verlassen, ich möchte hierbleiben.

Aber sobald ich bemerke, dass ich nicht mehr gleichberechtigt behandelt werde, würde ich gehen. Vielleicht nach Portugal, in die Schweiz oder in den Nahen Osten. Das überlegt man sich natürlich. Die Ersten, die ausreisen würden, wären Menschen, die gut integriert sind und fleißig Steuern zahlen. Ich bin mir sicher, wenn alle Personen mit Migrationshintergrund auch nur eine Woche aufhören würden zu arbeiten, würde Deutschlands Wirtschaft komplett untergehen.

In den sozialen Medien liest man Kommentare, dass sich Flüchtlinge aus dem Land verpissen sollen, dass sie keiner braucht. Manche Mitglieder der AfD haben gesagt, man solle Flüchtlinge an der Grenze erschießen. Ich stelle mir die Frage: Heißt das, vor 20 Jahren hättest du mich erschossen? Die Deportationspläne, die Correctiv öffentlich gemacht hat, waren für mich ein kompletter Gamechanger. Da waren ja auch Investoren von bekannten Gastronomiebetrieben dabei.

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Ich habe mich dann gefragt, ob ich jetzt immer erst einen Backgroundcheck machen muss, wenn ich für mein Start-up neue Investoren suche. Die anschließenden prodemokratischen Demonstrationen haben mich emotional sehr berührt und inspiriert. Das gibt mir das Gefühl, dass die Leute, die uns loswerden möchten, nicht in der Mehrheit sind.

Siddik Turhalli (30) ist Venture-Capital-Investor, Dozent für Entrepreneurship und hat das Start-up Cravies gegründet. 2023 wählte ihn das „Forbes“-Magazin auf die „30 unter 30“-Liste. Anfang des Jahres hat Turhalli das Stipendienprogramm „Empathy“ mitgegründet, das Menschen mit unterschiedlichen Lebenswegen unterstützt.

Redigatur: Sven Prange, Storytelling: Agatha Kremplewski, Bildredaktion: Teresa Stiens und Clara Thier, Collage: Julius Brauckmann

Bildnachweise Hintergrundbilder (von oben nach unten): Lars Neumann (2), Alexander Ratzing (3), Pascal Bruns/Suhrkamp Verlag (4), Lea Waser (5), Manor Lux (6)

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