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Europawahl

So könnte die AfD über Tiktok die Europawahl beeinflussen

Tiktok ist vor allem bei unter 18-Jährigen sehr beliebt. Das hat auch die AfD erkannt – und versucht, auf der Social-Media-Plattform junge Wählerstimmen einzufangen. Das könnte Auswirkungen haben auf die Ergebnisse der Europawahl: Schließlich dürfen dann zum ersten Mal auch 16-Jährige wählen.

05.04.2024 - 15.00 Uhr

Vor dem Brandenburger Tor tummeln sich Schulklassen aus ganz Deutschland. Einige von ihnen haben gehört, Philipp Amthor sei in der Nähe. Sie kennen den CDU-Politiker von Videos auf Instagram und Tiktok, aber ihn mal in echt zu sehen wäre das Highlight der Klassenfahrt. Dass die Europawahlen bald anstehen und sie auch wählen dürfen – zum ersten Mal überhaupt –, wissen nicht alle der 16- und 17-Jährigen. Aber fragt man sie nach der AfD und Tiktok, wissen sie, was gemeint ist.

„Dieser eine AfD-Typ, Maximilian Krah, den habe ich auch auf meiner ForYou, obwohl ich den nicht wirklich schaue“, sagt der 16-jährige Felix. „ForYou“ ist die Startseite der Plattform mit personalisierten Videovorschlägen für die Nutzer. „Überall sind blaue Herzen in den Kommentaren. Da kriegt man echt Angst“, sagt Charlotte, ebenfalls 16. Gezielt nach politischen Inhalten suche sie nicht, aber „wenn ich was Politisches sehe, dann oft entweder gegen oder für die AfD“.

Die AfD ist bei Tiktok präsenter als andere Parteien

Weil nun auch Jugendliche ab 16 Jahren wählen dürfen, gibt es bei der Europawahl diesen Sommer so viele potenzielle Erstwähler wie nie zuvor. Im Vergleich zu anderen Altersgruppen verbringen diese deutlich mehr Zeit auf Tiktok als in anderen sozialen Netzwerken. In den letzten Wochen hatten Verfassungsschützer und Politiker vor der Verbreitung von Desinformation auf der Plattform gewarnt und eine Regulierung diskutiert.

Die AfD ist auf Tiktok mit ihren Kurzvideos sehr präsent und erreicht mehr Nutzer als alle anderen Parteien zusammen. Könnte die AfD bei der Europawahl junge Erstwähler für sich gewinnen? Wie groß ist der Einfluss der Tiktok-Influencer auf die politische Meinungsbildung junger Erwachsener? Schließlich könnte bei der letzten Europawahl ein Influencer bereits großen Einfluss gehabt haben.

Der Rezo-Effekt

Kurz vor der Europawahl 2019 veröffentlichte ein junger Mann mit blauen Haaren namens Rezo seine einstündige Ausführung „Die Zerstörung der CDU“ auf der Video-Plattform Youtube.



Ob das einen Einfluss auf die Wahlbeteiligung bei Wählern unter 25 hatte? Immerhin sei diese laut einer Pressemitteilung des europäischen Parlaments im Vergleich zur letzten Wahl um 14 Prozentpunkte gestiegen. Die CDU verlor laut tagesschau.de bei den 18 bis 24-jährigen 15 Prozentpunkte – und das alles nur wegen Rezo?

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Georg Materna forscht am JFF Institut für Medienpädagogik zur Meinungsbildung Jugendlicher. „Dieses Rezo-Video war das erste, das auch Politiker*innen wirklich ziemlich deutlich gemacht hat, wie politisch diese Social-Media-Öffentlichkeiten sind und für politische Zwecke genutzt werden“, sagt er. Es wäre seiner Meinung nach jedoch unseriös zu behaupten, man könne nachweisen, inwieweit Rezo die Europawahl beeinflusst hat.

Philipp Lorenz-Spreen forscht am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung zu Online-Plattformen und deren Auswirkungen auf Demokratien. Er sagt: „Es kann sein, dass Influencer dadurch, dass sie so nahbar und in der gleichen Altersgruppe sind, einen besonderen Draht haben.“

Tiktoks der Europakandidaten

Ob und wie sehr Rezo die letzte Europawahl beeinflusst hat, ist folglich schwer zu ermitteln. Soziale Medien sind seitdem aber noch schneller und politischer geworden. Auf Tiktok lassen sich kurze Clips von maximal 60 Sekunden direkt auf dem Handy erstellen und hochladen. Zeit und Platz für lange Ausführungen oder Quellenbelege wie bei Rezos Video gibt es nicht. Und längst sind auf Tiktok nicht nur Influencer – viele Politiker selbst sind zu Hauptdarstellern geworden.

So auch Katarina Barley.

In ihren Videos will Barley politische Inhalte einfach erklären. Eines ihrer meistgeschauten Videos sahen 226.000 Menschen. Im Vergleich dazu: Das Video des EU-Spitzenkandidaten der AfD hat 1,4 Millionen Aufrufe.

Maximilian Krah spricht seine Zuschauer direkt an. Er redet über seine Ideale und Werte, schimpft gegen die Grünen, lobt Elon Musk für seine Männlichkeit und teilt die Welt in Gut und Böse: Die AfD gegen das Establishment. Tiktok schränkte seine Reichweite nun aufgrund von Verstößen „gegen Community-Richtlinien“ ein. Die genauen Verstöße wollte das Unternehmen nicht nennen. Laut Spiegel könnte Krah mit homophoben Aussagen, Hetze gegen Geflüchtete und verschwörungstheoretischen Aussagen gegen die Regeln der Plattform verstoßen haben.

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Die AfD ist auf Tiktok sehr stark vertreten und ihre Videos werden vielen Nutzern vorgeschlagen. Laut einer Analyse des Politikberaters Johannes Hillje erreichte die AfD bis Dezember 2023 mehr als dreimal so viele Accounts wie alle anderen Parteien im Bundestag zusammen.

Tiktok schlägt seinen Nutzern Videos auf Basis eines Algorithmus und ihrem vorherigen Nutzerverhalten auf der Plattform vor. Nutzer müssen nur über den Bildschirm wischen und schon startet das nächste Video. Warum welches Video als nächstes gezeigt wird, lässt sich nur schwer nachvollziehen.

„Wir wissen alle nicht, wie dieser Algorithmus funktioniert. Es ist eine riesige Blackbox“, sagt Lorenz-Spreen, der zu sozialer Online-Interaktion forscht. „Ich glaube aber, dass die Plattformen so gebaut sind, dass sie aufmerksamkeitserregende Inhalte bevorzugen.“

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Tiktok wird vor allem von Jüngeren genutzt. In der Altersgruppe 16 bis 19 sind laut einer Umfrage 73 Prozent der Befragten auf Tiktok. Von den 50- bis 59-Jährigen sind nur 13 Prozent auf Tiktok. Die AfD erreicht mit ihren Videos somit potenziell vor allem junge Menschen. Und das laut Digital-Bericht „Digital 24“ der Unternehmen We are social und Meltwater durchschnittlich fast 38 Stunden pro Monat.

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Zwar erreicht die AfD vor allem junge Menschen auf Tiktok, die potenzielle Wählergruppe ist im Vergleich jedoch relativ klein. Die Wähler unter 18 machen 2,3 Prozent, junge Menschen unter 20 fünf Prozent der potenziellen Wählerstimmen zur Europawahl aus. Die Wahlbeteiligung der unter 25-Jährigen lag jedoch auch 2019 nach dem Rezo-Video bei lediglich 50 Prozent.

Was sagen die Jugendlichen?

Die Videos der AfD werden zwar viel verbreitet, „inwieweit das auch beeinflusst und sogar überzeugt, ist aber nicht sicher“, sagt Georg Materna. Zunächst ist nicht klar, woher Jugendliche ihre Nachrichten und politischen Inhalte beziehen.

Der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest untersucht seit 1998 das Medienverhalten Jugendlicher zwischen zwölf und 19. Laut ihrer letzten Umfrage namens „Jugend, Information, Medien“ von 2023 (kurz: JIM) bezieht jeder zweite Jugendliche Nachrichten über Fernsehen, Radio und Gespräche mit Freunden, nur ein Drittel über soziale Medien wie Youtube oder Tiktok. Aber laut Reuters Institute Digital News Report kommen 41 Prozent der 18- bis 24-Jährigen ausschließlich online mit Nachrichten in Kontakt. Der Anteil sei größer als bei allen anderen Altersgruppen.

Eine Erklärung für diese zunächst unterschiedlich ausfallenden Ergebnisse könnte ein Modell des Hans-Bredow-Instituts für Medienforschung liefern. Laut dem Modell gibt es bezogen auf Mediennutzung vier Typen:

  • Menschen, die gezielt nur journalistische Inhalte nutzen;
  • solche, die sich zusätzlich auch auf Social Media informieren;
  • wieder andere, die kein Interesse an Nachrichten haben und sie nur am Rande auf Social Media mitbekommen;
  • aber auch solche, die sich gezielt nur über Social Media informieren, weil sie Medien generell mistrauen. Mit der Abstufung des Vertrauens in etablierte Medien sei die Wahrscheinlichkeit, wie sehr Kurzvideos beeinflussen, dann auch entsprechend höher.

Das Handelsblatt hat Jugendliche gefragt, wie sie sich informieren und ob sie von Tiktok politische Inhalte beziehen. In ihren Antworten waren vor allem die ersten drei Gruppen vertreten. Klicken Sie auf den weißen Pfeil, um die Tonspur abzuspielen.

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Materna glaubt, dass die Gruppe, die sich generell nicht für politische Inhalte interessiert, unter jungen Menschen größer ist als die anderen drei. „Der Content von verschiedenen problematischen Akteur*innen auf Social Media ist eben gezielt darauf ausgelegt, nicht politisch zu sein, sondern eher unterhaltend oder emotionalisierend“, so Materna. So würden dann allgemeine Werte gesetzt, statt ins Detail zu gehen. Auch die AfD betreibt eine Art unterschwelligen Wahlkampf, der allgemeinere Themen wie Nationalstolz und vermeintlich verträgliche Werte setzt.

Wie wird Tiktok von der AfD genutzt?

Auf dem Account mutzurwahrheit90 des AfD-Fraktionsvorsitzenden im Landtag von Sachsen-Anhalt spricht Ulrich Sigmund scheinbar spontan in die Kamera unter Schriftzügen wie „Zurück zur Normalität“ und „Arbeit muss sich lohnen“. Der Account hat über 300.000 Follower. Auch den Jugendlichen fallen immer mehr unterschwellige AfD-Botschaften auf Tiktok auf.

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Netzwerkwissenschaftler Lorenz-Spreen denkt, dass populistische Parteien besonders gut auf Tiktok ankommen: „Wahrscheinlich wegen dieses aufmerksamkeitsgetriebenen Algorithmus, dieser Logik, die irgendwie gut zum Populismus passt.“ Philipp Lorenz-Spreen war an einer Übersichtsstudie des Max-Planck-Instituts zur Auswirkung digitaler Medien auf Demokratien beteiligt. Sie analysierten dafür 500 Studien zu diesem Thema. Durchschnittlich ging die Nutzung digitaler Medien mit schwindendem politischen Vertrauen, Populismus und Polarisierung der Meinungslandschaft einher.

Dieser Wandel tritt jedoch nicht plötzlich ein: „Wir sind sicherlich keine kompletten Fähnchen im Wind und glauben, weil wir irgendwo draufgeklickt haben, an absurde Ideen“, sagt Lorenz-Spreen. Inhalte müssen in das eigene Weltbild passen, um zu beeinflussen.

Tiktok eignet sich deshalb für eine erste Konfrontation mit Themen. „Tiktok ist gut für den Erstkontakt, um mal einen Begriff zu setzen, Interesse zu wecken“, erklärt Medienpädagoge Materna. Aber eine vertiefte Auseinandersetzung findet dann auch anderen Plattformen statt: Telegram, Instagram, Youtube und WhatsApp. Tiktok ist lange nicht die einzige Plattform, über die sich junge Menschen über Politik und andere Themen informieren. „Es ist ein Zusammenspiel der Plattformen mit unterschiedlichen Möglichkeiten.“ Davon sei Tiktok nur ein Puzzleteil. Das sehen die befragten Jugendlichen ähnlich:

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Wahlkampf auf Tiktok

Wenn sich Tiktok vor allem für populistische Inhalte eignet, sollten die anderen Parteien überhaupt mit ihrem eigenen Wahlkampf auf Tiktok gegenabreiten?

Das Handelsblatt hat die Jugendlichen gefragt, ob die anderen Bundestagsparteien auf Tiktok sein sollten und was für Inhalte sie sich wünschen würden.

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Kritisch sehen die Jugendlichen, dass viele Politiker in den sozialen Medien eher polarisieren. Der Wunsch nach Information über politisches Geschehen ist allerdings da:

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Die Jugendorganisationen der Parteien denken ebenfalls, dass die Parteien auf Tiktok vertreten sein sollten. Laut Leonhard Wolf von den Jusos gebe es dieses Jahr so viele Erstwähler wie nie zuvor. „Deshalb ist es nicht nur sinnvoll, sondern notwendig, als Partei auf Tiktok unterwegs zu sein.“ Die Grüne Jugend warnt vor zu platten Inhalten: „Junge Menschen wünschen sich nicht einfach nur tanzende Ampelpolitiker*innen auf Tiktok“, sagt Svenja Appuhn, Bundessprecherin der Grünen Jugend. Nina Weise, Head of Social Media bei der Jungen Union, hält es bereits für einen großen Erfolg, „wenn mehr Videos auf der For-You-Seite von demokratischen Parteien kommen als von AfD-Politikern.“

Jonas Flöck ist ehemaliger Vorstand der Jugend Enquete Kommission, ein Verein mit dem Ziel, als Vertretung der Jugend vom Bundestag anerkannt zu werden. Er sagt: „Es kann eigentlich nicht sein, dass wir Tiktok den eher rechten Menschen überlassen. Vielleicht wäre es gut, wenn man da noch mehr entgegensetzt.“ Heidi Reichinneck von den Linken hätte beispielsweise demokratischen Populismus seiner Meinung nach verstanden.



Medienpädagoge Georg Materna plädiert jedoch für mehr Inhalte auf Tiktok, die „Themen aufmachen, um die Kontroversität und die verschiedenen Lösungsansätze zu zeigen“ – und das ohne Parteibezug.

Kann die AfD auf Tiktok wirklich Stimmen dazugewinnen?

Tiktok ist in der politischen Meinungsbildung demnach nur ein Puzzleteil in einem Geflecht sozialer Medien. Die kurzen Videos schaffen es jedoch, gerade Jüngere zunächst auf einfache Weise mit Themen zu konfrontieren.

Eine bestimmte Gruppe von jungen Menschen könnte das ansprechen, die sich dann vielleicht auf anderen Plattformen näher informieren. Aber kann die AfD nun bei der Europawahl durch Tiktok-Videos dazugewinnen? „Ich denke, das wird schon einen Einfluss haben. Ob das jetzt 0,3 Prozent oder 5 Prozent sind, das ist schwer zu sagen“, sagt Netzwerkwissenschaftler Lorenz-Spreen. Er sei jedoch kein Wahlforscher. Schaut man auf die Wählerverteilung, sind riesige Prozentsprünge bei der Europawahl zunächst unwahrscheinlich.

Auch wenn gerade jungen Menschen auf Tiktok vertreten sind, sehen die Experten aber die Herausforderung durch politische Inhalte auf Social Media nicht nur bei dieser Altersgruppe und auch nicht nur auf Tiktok. „Wir sehen, dass Social Media als Nachrichtenquelle für die Meinungsbildung und in der Relevanz immer wichtiger werden“, sagt Materna, „besonders bei jungen Menschen, aber auch in allen anderen Altersgruppen.“

„Es ist nicht nur Tiktok ein Problem, mit dem wir irgendwie klarkommen müssen, sondern insgesamt die Digitalisierung des öffentlichen Diskurses“, sagt Lorenz-Spreen. Junge Menschen können aber schon eher mit digitalen Plattformen umgehen, weil sie damit aufgewachsen sind. Lorenz-Spreen sagt: „Meiner Meinung nach müssten wir uns um alle Altersgruppen Sorgen machen.“

Dieser Beitrag ist Teil des Handelsblatt-Wochenendprogramms. Das gesamte Programm finden Sie hier.

Text: Lina Knees, Greta Klotzki, Audioaufnahmen: Greta Klotzki, Storytelling: Agatha Kremplewski, Infografik: Hendrik Wünsche, Collage: Julius Brauckmann, Bildredaktion: Iris Zielinski

Nachweis Hintergrundbilder (in dieser Reihenfolge): Dpa, Getty Images, [M], Imago / CTK Photo; Dpa; picture alliance / Bernd Kammerer; Getty Images; Imago / CTK Photo; Imago/IPON

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