Anzug als Dresscode in der Geschäftswelt reicht nicht mehr. Botox, Filler und Facelifting ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Was der Wall-Street-Look mit unserer Arbeitswelt macht.
Seit zwei Jahren lässt Jürgen seine Falten minimieren. Es sind nur kleine Verbesserungen mit Botox und Filler. „Ich will nicht, dass mich Leute komisch anschauen und fragen, wo die Falte hin ist“, sagt er. Niemand soll von seinen kleinen Korrekturen wissen, auch deswegen will er seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen.
Angefangen hat alles vor zwei Jahren. Als er sich Bilder von früher ansah und sie mit seinem Spiegelbild verglich. Da war diese immer tiefer werdende Falte, die sich auf seiner Stirn breitmachte. Sie sieht so gar nicht frisch aus, kratzt immer spürbarer an seinem Ego. „Je tiefer die Falte, desto verbrauchter wirkt man einfach“, sagt Jürgen.
Jürgen ist 47 Jahre alt. Als Bereichsleiter einer Münchener Bank hat er einen stressigen Job, arbeitet lange und viel. Das zeigt sich in seinem Gesicht.
Ein Gesicht, das so gar nicht zu seinem Charakter passt. Eigentlich fühlt er sich jung und dynamisch. Er geht abends mit seinem Kollegen oft noch in die Bar, hat viele Ideen im Job. „Ich habe mit dem 35-Jährigen einfach mehr gemeinsam als mit dem 55-Jährigen.“
Er entdeckt im Internet die Möglichkeiten von Botulinumtoxin und Hyaluronsäure, auch Botox und Filler genannt. Die probiert er aus.
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Es gehe ihm vor allem darum, sich selbst zu gefallen. Aber Jürgen beobachtet in der Berufswelt auch das Erfordernis, jung, dynamisch und erfolgreich zu sein. „Daran orientiere ich mich ein Stück weit.“
Jürgens Botoxbehandlung ist eine Ausnahme, könnte man sagen. Nicht der Rede wert. Schließlich wird knapp die Hälfte aller Botoxbehandlungen in den USA gespritzt. Nur 3,8 Prozent aller Botoxspritzen werden in Deutschland verabreicht, zeigen Daten der International Society of Aesthetic Plastic Surgery (ISAPS).
Außerdem nutzen überwiegend Frauen die Mittel zur Faltenreduzierung. Laut der Vereinigung der deutschen ästhetisch-plastischen Chirurgen (VDÄPC) führen Ärzte nur etwa zehn Prozent aller Schönheitseingriffe an Männern durch.
Warum also sollten Männer in Deutschland sich für Botox und Filler interessieren?
Erstens, weil Schönheit mit Erfolg einhergeht. Studien zeigen immer wieder: Der Schöne wird häufiger zum Bewerbungsgespräch eingeladen, wird seltener gekündigt und verdient besser. Männer können sogar mit einem höheren Lohn von bis zu sieben Prozent rechnen, wenn sie attraktiv sind, zeigt eine Studie im Economics Letter von 2012.
Zweitens, weil zumindest die Botoxbehandlungen bei Männern seit 2020 leicht angestiegen sind, zeigen Zahlen des VDÄPC.
Was also heißt es für unsere Arbeitswelt, wenn nicht nur alle schön sein wollen, sondern es mithilfe von Botox und Filler auch können? Wird das Schönsein dann zu einem Muss?
Botox ist ein milliardenschwerer Markt. Auf 8,14 Milliarden US-Dollar schätzt beispielsweise das Marktforschungsunternehmen Fortune Business Insight allein den Botoxmarkt im Jahr 2023. Bis 2032 soll sich das Marktvolumen verdoppeln, so lautet die Prognose.
An diesem Markt will der Schönheitschirurg Edouard Manassa teilhaben. Seine Praxen finden sich in den wichtigsten Straßen der wichtigsten Großstädte. Etwa in München in der Kaufingerstraße, an der Königsallee in Düsseldorf, auf der Zeil in Frankfurt oder auf dem Jungfernstieg in Hamburg. Mitten in der Parfümeriekette Douglas.
Im Erdgeschoss tummeln sich Menschen, die sich mit Parfum, Schminke und Cremes eindecken wollen. In die zweite Etage führt eine Rolltreppe. Ganz am Ende der Etage versteckt sich hinter einem Vorhang ein kleines Zimmer. In dem steht eine cremefarbene Liege und ein weißer Schreibtisch, außerdem einige Schränke.
Das ist es, was sein Start-up Paau ausmacht. Paau ist eine Praxis mit sogenanntem Walk-in-Konzept. Botox to go, Filler zum schnellen Mitnehmen, direkt in der Lebenswelt seiner Kunden und Kundinnen. Ohne Termin, noch besser natürlich mit Termin, wie Manassa sagt.
Der Banker Jürgen ist einer der Kunden von Edouard Manassa. Es würden immer mehr erfolgreiche, berufstätige Männer zu ihm kommen und sich die Zornesfalte oder die Stirnfalten botoxen lassen, beobachtet Manassa. „Männer wünschen sich den Wall-Street-Look. Glatte Stirn und ein markantes Gesicht. Sie wollen frisch und nicht abgearbeitet aussehen.“
Daran verdient Manassa. Er selbst sieht sich hauptsächlich als Mediziner, aber eben auch als Dienstleister und Unternehmer. Eines dürfe man nicht vergessen. „Wir machen Medizin, und das ist mit gewissen Risiken verbunden“, sagt Manassa. Eine fundierte Ausbildung sei wichtig.
Die gibt es auch bei Paau. Zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie (Dgpräc) bieten sie Weiterbildungskurse für andere Fachärzte im Bereich Faltenbehandlung an. Sie haben bereits 60 Teilnehmende ausgebildet, sagt Manassa. Der Online-Faltenkurs von Paau kostet 1950 Euro.
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Die Gründer von Paau sind auch auf Instagram aktiv. Manassa und sein Geschäftspartner klären über Mythen und Risiken auf und erklären, dass Botox ein Nervengift ist, das die Muskeln entspannt und dadurch die Haut glättet. Es kommt bei Krähenfüßen, Stirn- und Zornesfalten zum Einsatz. Sie erklären den Unterschied zur Hyaluronsäure, die die Haut „prall“ halten soll. Filler füllt zum Beispiel Falten, aber auch Lippen auf.
Sie zielen mit ihrem Geschäftsmodell aber auf eine Angst, die viele Menschen kennen: alt zu werden.
In einem Video präsentiert sein Geschäftspartner Holger Hofheinz die Lösung, dass sie „den Alterungsprozess mit Botox im oberen Gesichtsbereich stoppen können“. Deswegen könne man den Standpunkt vertreten, vorbeugend schon mit Ende 20 oder Anfang 30 mit einer Behandlung zu beginnen. Ein Geschäft mit der Jugend, das gut funktioniert.
Den Alterungsprozess könne natürlich niemand stoppen, sagt Marcus Lehnhardt, Direktor der Klinik für Plastische Chirurgie am BG Universitätsklinikum Bergmannsheil in Bochum und Präsident der Dgpräc. Das sei Werbung. Man könne aber frühzeitig, sobald die ersten Falten sichtbar sind, mit Botox anfangen und Falten kaschieren.
Marcus Lehnhardt weiß, warum Ärzte den neuen Schönheitsdruck bedienen wollen:
Dann rechnet Lehnhardt vor: Eine Spritze Botox oder Filler koste etwa 100 Euro, und diese könnten Ärzte für 300 bis 400 Euro verkaufen. Pro Behandlung brauchen die Ärzte zehn Minuten oder eine Viertelstunde. „Den Rest können Sie sich selbst denken“, sagt Lehnhardt.
Gegen Konzepte wie Paau hat Lehnhardt nichts einzuwenden. „Hinter Paau steht ein ausgeklügeltes, sehr gutes Konzept, an dem Leute mit sehr guter Ausbildung beteiligt sind.“ Nicht gut seien dagegen Konzepte, bei denen Menschen Botox spritzen, ohne eine Ausbildung oder ein Komplikationsmanagement zu haben. „Die wissen dann nicht, wie sie mit Komplikationen umgehen sollen.“ Lehnhardt muss das Konzept von Paau auch gut finden. Seine Gesellschaft kooperiert in Weiterbildungsfragen mit Paau.
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Doch nicht alle sind von Paau überzeugt. Helge Jens, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie (Dgäpc) und selbst Facharzt für Plastische und Ästhetische Chirurgie, begrüßt zwar, dass bei Paau nur qualifizierte Chirurgen arbeiten. Aber: Ein Botox-Eingriff, der mal eben schnell und spontan in der Fußgängerzone stattfinde, verharmlose die medizinischen Risiken. „Auch bei Unterspritzungen können ernsthafte Risiken und Nebenwirkungen entstehen.“
Die Risiken nach einer Unterspritzung liegen nicht nur bei kleineren blauen Flecken“, sagt Helge Jens. „Das reicht von absterbendem Gewebe (Nekrose) bis hin zu einer Erblindung im schlimmsten Fall.“
Selbst Lehnhardt von Paau-Kooperationspartner Dgpräc hält den Botoxtrend insgesamt für eine schlechte Entwicklung. „Man findet sich immer weniger mit dem normalen Alterungsprozess ab“, sagt Lehnhardt. Das Alter würde immer mehr zu einem Makel, den es zu vermeiden gilt.
Manfred Tautscher ist Geschäftsführer vom Sinus-Institut für Markt- und Sozialforschung und erkennt hinter dem Botoxboom den Trend zur Selbstoptimierung und den damit verbundenen Leistungsdruck. „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, und als Älterer kann man es sich immer weniger erlauben, nicht leistungsfähig zu wirken. Dazu zählt auch das Erscheinungsbild.“
Seit Jahren gehe es darum, das größtmögliche Potenzial aus sich herauszuholen. Sei es durch Sport und Ernährung oder über das Aussehen, sagt Tautscher. „Mit Botox und Filler kann man sich selbst optimieren, damit sieht man fitter aus.“
Der Trend zu Botox in der Arbeitswelt habe aber auch etwas mit einem neuen Bild der modernen Arbeitsgesellschaft zu tun, sagt Ada Borkenhagen, Professorin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universitätsklinik Magdeburg und niedergelassene psychologische Psychotherapeutin.
Früher habe man einem Angestellten die Arbeit ansehen müssen. Heute müssen Angestellte aussehen, als seien sie ganz entspannt, erklärt sie die Verschiebung des Schönheitsideals. Aber:
Mit Botox wirkten viele entspannter und fühlten sich auch entspannter.
Heute gehe die Identität mit dem Lebensstil einher. Angestellte müssten ihre Leistungsfähigkeit auch mit dem Körper und dem Aussehen zeigen. Botox und Fitness seien Ausweis für Disziplin. „Ein Topmanager mit Bierbauch ist nicht mehr vorstellbar“, sagt Borkenhagen.
Dazu komme, dass Arbeitnehmer durch Filter in Social Media, aber auch bei Zoom-Konferenzen sich digital verschönern können. Den Unterschied zwischen real und digital wollen viele nicht hinnehmen, sagt Borkenhagen.
Wohin das führt? Ada Borkenhagen meint, dass der Trend, sich in der Arbeitswelt zu botoxen, zu ungleichen Chancen führt. „Die, die sich nicht botoxen, lasern oder fillern lassen können, haben einen Nachteil.“ Es ist eben auch ein Statussymbol, ob Leute es sich leisten können, alle paar Monate die Haut behandeln zu lassen. Die Wirkung von Botox hält etwa drei bis sechs Monate an.
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Trendforscher Manfred Tauscher sieht diesen Nachteil für jene, die sich nicht mit Botox behandeln lassen, nicht. Er schätzt, dass der Botoxboom ein ästhetischer Trend bleiben wird. Und: Wie jeder Trend löse auch der Botoxtrend einen Gegentrend aus: mehr Natürlichkeit, „mehr Authentizität“, wie Tautscher es nennt.
Der Banker Jürgen denkt jedenfalls, dass sich immer mehr Berufstätige für Botox und Filler entscheiden werden. Ob sich seine „minimalen Verbesserungen“ positiv auf seine Karriere auswirken, kann er nicht beurteilen. Aber seine Selbstwahrnehmung und sein Lebensgefühl seien mit Botox und Filler besser. Und er sagt: „Wenn Sie sich gut fühlen, wirken Sie auch besser.“ Ob im Privatleben oder in der Arbeitswelt.
Text: Annika Keilen, Redigatur: Sven Prange, Storytelling: Agatha Kremplewski, Bildredaktion: Ingo Rappers, Michel Becker
Bildnachweise Hintergrundbilder: Getty Images (Montage) (3)