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Homosexualität

„In der Ukraine hätte ich eine Scheinehe führen müssen“

Noch bevor Russland die Ukraine überfiel, verließ Pavlo Stroblja seine Heimat. Weil er schwul ist. Heute berät er Unternehmen in Deutschland in Sachen Vielfalt. Denn die sehen Fachkräftepotenzial.

Annika Keilen 12.07.2024 - 13:50 Uhr







Heidelberg.



Als Pavlo Stroblja in die Grundschule ging, war die Ukraine noch Teil der Sowjetunion. Und Stroblja trug ein Sternabzeichen auf seiner Jacke. Das spiegelte wider, was er auch sonst zu repräsentieren hatte: Gleichheit, der Dienst an der sowjetischen Gesellschaft verbunden mit einem klassischen Männlichkeitsbild. Individualismus war unerwünscht.

Dass er lieber mit Puppen spielte als Bälle zu kicken, versuchte Stroblja deswegen zu verstecken. Sowieso umgab er sich lieber mit den Mädchen der Klasse. Auch in der Jugend fühlte er sich in seinem Umfeld nicht richtig zugehörig. Ihm fehlten Vorbilder und Menschen, denen er Fragen zu seiner Identität stellen konnte. Denn Pavlo Stroblja ist schwul.

Heute lebt Stroblja in Heidelberg und sagt Dinge wie: „Ich nehme es mir raus, meine Persönlichkeit nicht mehr zu verstecken.“

Er coacht Unternehmen wie LinkedIn, Carlsberg oder Hays in Sachen Diversität und sozialer Verantwortung, veröffentlichte jüngst ein Buch darüber und hat Queermentor gegründet. Ein Sozialunternehmen, das queere, also nicht heterosexuelle Menschen in der Arbeitswelt vernetzt, indem es Mentoringprogramme anbietet.

Mehr: Wie wichtig Diversität für die Wirtschaft ist

Jüngst überreichte ihm Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den Bundespreis. Er hat den Impact of Diversity Award gewonnen und ist für den Fachkräftepreis des Bundesarbeitsministeriums nominiert. Denn egal wie unattraktiv viele Menschen und Unternehmen queere Themen finden, Fachkräftegewinnung interessiert sie alle. Und da geht es eben auch darum, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem sich möglichst viele Menschen wohlfühlen. Auch wenn sie nicht der Mehrheitsgesellschaft entsprechen.

Pavlo Stroblja und Olaf Scholz auf der startsocial-Preisverleihung in Berlin. Bild: Gordon Welters/startsocial e.vV.

Wir können nicht nicht divers sein, ist einer der Sätze, die Stroblja nutzt, wenn er vor Unternehmen spricht. Und sollte einer aus der Belegschaft sich über Regenbogen aufregen, dann weiß Stroblja inzwischen, wie er argumentiert: Indem er die Dimensionen von Diversität aufzeigt. Und da gehöre nicht nur die sexuelle Orientierung dazu, sondern zum Beispiel auch das Alter.

Einem 50-jährigen Arbeitnehmer werden eben auch Eigenschaften, wie etwa mangelnde Technikkenntnisse, zugeschrieben, die Vorurteilen unterliegen. Für den Umgang innerhalb des Teams sind solche Vorurteile aber eher hinderlich. Und so ist es eben auch bei anderen Dimensionen von Vielfalt.

In Deutschland identifizieren sich etwa elf Prozent der Bevölkerung als lesbisch, schwul, bisexuell, trans* und/oder anderweitig queer, ermittelte das Marktforschungsinstitut Ipsos. Umgerechnet definieren sich also rund neun Millionen Menschen als queer.

Queere Menschen leiden häufiger unter Einsamkeit, Ängsten und Stress. Sie erleiden sogar dreimal häufiger einen Burn-out als die restliche Bevölkerung, zeigt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.

Gründer Pavlo Stroblja will mit seinem Mentoringprogramm queeren Menschen den Berufseinstieg sowie den Berufsalltag erleichtern. Denn ein Start als queere Person ist eben nicht einfach. Das musste er selbst erleben.

Das Aufwachsen in der Ukraine











Pavlo Stroblja wurde 1981 in einer Kleinstadt im ukrainischen Teil der Sowjetunion geboren. Bis er zehn Jahre alt war, lernte er, was es heißt sowjetischer Bürger zu sein. Dann zerfiel die Sowjetunion und er war Ukrainer.

In der ukrainischen Schule merkt Stroblja, dass er nicht dazugehört. Er verstand sich besser mit den Mädchen der Klasse, doch die hatten in der Pubertät andere Probleme als er. Und Zugang zu Informationen im Internet hatte er damals auch nicht. „Ich dachte jahrelang, ich bin der Einzige, der nicht in diese Welt passt.“

Pavlo Stroblja während seiner Schulzeit. Bild: privat

Auch mit den Jungs passte es nicht. „Ich war sehr weiblich, das hat man mir angesehen.“ Dafür wurde er gemobbt. Hellblaue Kleidung zu tragen vermied er viele Jahre, weil hellblau auf ukrainisch eine Beleidigung für schwul ist, erzählt er.

Eine seiner Strategien, um dem Alltag und dem Nichtdazugehören zu entkommen, war es in der Schule möglichst erfolgreich zu sein. „Eine Suche nach Anerkennung“, sagt Stroblja rückblickend. „Das Lernen war aber auch eine Flucht aus der Realität.“ Für seine Mitschüler war er dadurch aber nur der Streber.

Um dazuzugehören, ging er als Jugendlicher mit Frauen aus. „Ich habe mir selbst erzählt, dass ich bisexuell bin und nicht nur auf Männer stehe“, sagt Stroblja heute.

Als Stroblja sich mit 17 Jahren seiner besten Freundin anvertraute, musste sie weinen. Sie hatte Angst um ihren Freund. Angst, dass er Gewalt erfahren würde. Gerade in kleinen Städten der Ukraine wurden damals queere Personen geächtet, erzählt Stroblja.

In der Ukraine ist Homosexualität noch immer ein Tabu. Eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft ist auch heute noch nicht legal.

Nach Ergebnissen einer Umfrage des US-amerikanischen Pew Research Centers im Jahr 2019 sagen nur 14 Prozent der Befragten, dass Homosexualität in der Gesellschaft akzeptiert werden sollte. In Deutschland stimmen dem 86 Prozent der Befragten zu.

Für Pavlo Stroblja bedeutete das:

In der Ukraine hätte ich eine Scheinehe führen müssen

Pavlo Stroblja, Gründer Queermentor

Eine Scheinehe mit einer Frau, nebenher Sex mit Männern, das sei für ihn eine reale Option gewesen. Weil es andere homosexuelle Männer in der Ukraine eben auch so machen. „In der Ukraine führen viele queere Menschen ein verdecktes Leben.“

Nachdem sich seine beste Freundin schon Sorgen um ihn machte, wollte er seinen Eltern erst recht nicht erzählen, dass er schwul ist. Den Fragen nach einer Frau und Kindern wich er aus. „Innerlich merkte ich, es gibt in der Ukraine keinen Platz für Leute wie mich“, sagt Stroblja. Aber im Fernsehen sah er Bilder vom Christopher Street Day aus westeuropäischen Ländern. Da war für ihn die Freiheit, nach der er sich sehnte.

Das Outing











Mit 23 Jahren ging Stroblja nach Deutschland, um einen internationalen Juraabschluss zu absolvieren. In Deutschland gab es keine Studiengebühren. Vor allem hatte er aber das Gefühl, dass er seine Sexualität nun offener ausleben kann.

Da war der damalige Berliner SPD-Bürgermeister Klaus Wowereit, der sich 2001 mit dem Satz „Ich bin schwul – und das ist auch gut so“, als erster deutscher Spitzenpolitiker öffentlich outete. Und Pavlo Stroblja dachte: „Wow, also wenn ein Politiker schwul sein kann, muss ich mich auch nicht verstecken.“

Stroblja jobbte neben seinem Studium in einem Café. Eine andere Kellnerin erzählte ihm beiläufig davon, dass ihr Bruder schwul sei. Pavlo entgegnete: „Ich glaube, ich bin das auch.“ Was für ihn sein erstes Outing in Deutschland war, war für seine Kollegin überhaupt kein Problem.

„Da merkte ich, ich muss mich nicht schämen.“

Nach seinem Jurastudium fand er eine erste Anstellung im Theater in Heidelberg. Da waren viele Menschen queer wie er. Stroblja erlebte das erste Mal Freiheit in seiner Sexualität. Sich selbst akzeptiert hat er da noch nicht.

Wie damals in der Schule, wollte er sich mit seiner Leistung beweisen. Er wird Geschäftsführer beim Citymarketingverein Pro Heidelberg, macht ein zusätzliches Wirtschaftsstudium in Mailand in Italien und wird zum Teammanager bei Louis Vuitton. Dann will er wieder nach Deutschland, arbeitet zunächst weiter bei Louis Vuitton, später leitet er eine Filiale von Tiffany. Doch obwohl er beruflich erfolgreich ist, erfüllt fühlt er sich nicht.

So richtig bewusst wird ihm das zu Coronazeiten. Als er merkt, wie einsam er selbst ist, aber vor allem wie einsam die ganze queere Szene ist. Dem DIW zufolge fühlen sich Menschen der queeren Szene doppelt so oft einsam wie die restliche Bevölkerung.

Heute hilft er anderen











Stroblja sitzt im Europäischen Hof. Caroline von Kretschmann, die Hotelchefin, begrüßt Stroblja persönlich. Beide kennen sich. Sie ist als queere Unternehmerin eins seiner Vorbilder.

Er trägt einen grauen Pullover. Stroblja will sich mit seiner Kleidung an die Mehrheitsgesellschaft anpassen, damit ihm zugehört wird, sagt er. „Aktuell erfahre ich keine Diskriminierung, ich kann also andere unterstützen“, sagt Stroblja.

Das tut er, indem er Queermentor gegründet hat und in Unternehmen zu Diversität spricht. Die Nachfrage nach seinen Vorträgen sei in Unternehmen groß, schließlich seien viele an den Möglichkeiten von Diversität interessiert.

Stroblja zu Gast bei Sponsor Linkedin im Mai 2024, zu einem Event zum internationationalen Tag gegen Homophobie. Bild: Ulrike Froemel

Wenn sich queere Menschen wohlfühlen, fehlen sie eben auch seltener im Unternehmen. Und ist die Atmosphäre tatsächlich offen für Diversität, zieht das natürlich auch Fachkräfte an.

Oft fühlten sich queere Menschen nicht sicher genug, sich am Arbeitsplatz zu outen, sagt Stroblja. Es fehlten die geschützten Räume für queere Menschen.

Außerdem färbten viele Unternehmen zwar ihr Logo in Regenbogenfarben, aber es bleibe dann auch beim Marketing. Stroblja sagt: „Maßnahmen für queere Menschen müssen in Kommunikation umgesetzt werden. Nicht andersherum. Sonst ist es Rainbow Washing.“ Stroblja meint damit, dass sich Unternehmen zwar gern mit Vielfalt schmücken, allerdings bemühten sich viele zu wenig ernsthaft um sie.

Dazu kommt, dass viele Menschen in der Belegschaft Unsicherheiten im Umgang mit queeren Menschen hätten. Wenn sich zum Beispiel ein Teammitglied als nicht binär, also als nicht ausschließlich weiblich oder männlich outete, wüssten viele nicht, wie sie reagieren sollten.

Mehr: Wo das beste Arbeitsklima herrscht

Und so arbeitet er mit vielen Unternehmen an der Unternehmenskultur, betreibt aber vor allem auch viel Aufklärung über Diversität und das Queersein. Er versucht, Brücken zu bauen zwischen der queeren Szene und der restlichen Belegschaft.

Eine Erkenntnis hat er dabei vielen nicht queeren Menschen voraus.

Erst kurz vor seinem Zusatzstudium in Italien hat Stroblja sich seinen Eltern anvertraut. Er besuchte sie in der Ukraine und outete sich. Doch seine Eltern unterstützten ihn nicht wie sonst immer, sondern reagierten verständnislos. Er packte daraufhin seinen Koffer und flog wieder zurück nach Deutschland.

Das Buch "Diversity Upgrade". Bild: Ulrike Frömel

Das Buch, das er jetzt geschrieben hat, ist nicht nur ein Buch, um die queere Community mit der Mehrheitsgesellschaft zu vereinen. Es soll Menschen, die keine Diskriminierungserfahrungen haben, helfen, einen sicheren Umgang mit Vielfalt zu finden. Und: „Es ist auch ein Buch für meine Eltern, um ihnen meine Welt etwas näher zu bringen“, sagt Stroblja.

Text: Annika Keilen; Redigatur: Sven Prange; Storytelling: Tobias Böhnke; Bildredaktion: Michel Becker

Bildnachweise Hintergrundbilder (in dieser Reihenfolge): Imago (1), Pavlo Stroblja (2, 3), Elvira Remo (4)

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