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Fünf Überlebensregeln für Pendler

Umleitungen, Unwetter, Unvermögen: Es gibt viele Wege, Reisende in den Wahnsinn zu treiben. Unser Autor kennt sie alle – er fährt seit sieben Jahren mit der Bahn auf zwei der beliebtesten deutschen Pendlerstrecken. So schlimm wie derzeit war sein Pendlerfrust noch nie – aber er hat eine Gegenstrategie.

Sven Prange 02.08.2024 - 15.00 Uhr

Tübingen. Mein neuester Gegner ist etwa 1,60 Meter groß, versteckt sich halb hinter einem Busch und hat mich in den vergangenen Wochen mehrere Stunden Lebenszeit gekostet. Es ist ein Stab mit einem Schild, das Zugführer zum Langsamfahren auffordert.

Dieser Stab tauchte irgendwann im März auf der Zugstrecke zwischen einem Vorort und dem Tübinger Hauptbahnhof auf. Und damit in meinem Leben. Er sorgt dafür, dass mein Zug an dieser Langsamfahrstelle, wie die Bahn das kaputte Teilstück leicht beschönigend nennt, aus Sicherheitsgründen immer abbremst und einen Kilometer lang in Schrittgeschwindigkeit fährt. Mein Zug kommt deswegen immer genau drei Minuten später an, als der Anschlusszug Richtung Stuttgart warten kann.

Das geht jetzt seit etwa drei Monaten so, jede Stunde zwischen 5 und 23 Uhr ein bis zwei Mal, und niemand ist bisher auf die Idee gekommen, diese drei Minuten in den Fahrplan einzuarbeiten. Oder das Problem zu beheben. Und so verlängerte sich meine Fahrzeit in den vergangenen drei Monaten um eine Dreiviertelstunde. Seit dieser Woche ist das nun nicht mehr der Fall. Da fällt der Zug einfach ganz aus, bis Mitte September.

Immerhin weiß ich, wie ich diesem Gegner zu begegnen habe: indem ich nicht die Nerven verliere. Dann wird er so verschwinden, wie er gekommen ist. Einfach irgendwie. Man kann halt nur nicht beeinflussen, wann.

Das ist überhaupt, sollten Sie ebenfalls pendeln wollen, die wichtigste Grundregel.

So war es mit den Vorgängern des Gegners auch. Einer von ihnen hieß Hitze und verbog für einige Zeit die Gleise, bis sie nach zwei Monaten – entweder durch Bauarbeiter oder durch Kälte, auch das weiß man nicht so genau – wieder gerade waren. Ein anderer hieß im Pendlerjargon Pofalla-Wende, benannt nach dem damaligen Bahn-Infrastrukturvorstand Ronald Pofalla, und ließ Züge bei einer Verspätung ihr Ziel einfach nicht mehr anfahren, sondern irgendwann umdrehen. Statt in Düsseldorf landete ich dann in Köln, manchmal aber auch in Siegburg.

Diese Erlebnisse bestücken meinen Alltag, weil ich zu der wachsenden Zahl an Menschen in Deutschland gehöre, bei denen Wohn- und Arbeitsort mehr als 20 Kilometer auseinanderliegen. 450 in meinem Fall. Ich wohne in einem Tübinger Vorort, mein Büro liegt in der Düsseldorfer Innenstadt. Das sind laut DB Navigator mit der Bahn dreidreiviertel Stunden. Diese Zeitangabe ist aber reine Theorie. Veröffentlicht in Fahrplänen, nach denen sich die Wirklichkeit nicht richten will.

Mehr: Pendlerfrust: „Bis an mein Lebensende halte ich das nicht aus“

Dass es laut Studien auf Dauer weder meiner psychischen noch meiner physischen Gesundheit guttut? Dass Stress, schlechte Ernährung und Frustration mit der Distanz zwischen Wohn- und Arbeitsort zulegen? Dass mein Alltag von einem Unternehmen abhängt, dessen Management seit Jahren das unfähigste Deutschlands sein dürfte? Das stimmt alles – und ist doch eben einem Balanceakt zwischen Arbeits- und Familienleben geschuldet, wie ihn in Deutschland gut vier Millionen Menschen vollbringen.

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Jede und jeder von ihnen hat im Laufe der Zeit seine eigene Strategie entwickelt, sich von diesen Umständen nicht in den Wahnsinn treiben zu lassen. Die einen stehen lieber im Stau als im verspäteten Zug, die anderen fliegen lieber, wieder andere erhöhen den Remote-Anteil ihrer Arbeit. Ich bin bisher dem Pendeln per Bahn treu geblieben – auch wegen meiner fünf Regeln gegen den Pendlerfrust, die sich gut an den fünf Teilstücken meiner wöchentlichen Strecke verdeutlichen lassen:

Tübingen–Stuttgart: Sehen Sie den Nahverkehr als Ihren persönlichen Endgegner

Die Woche beginnt meist mit einem tiefen Röcheln, auf das eine schwarze Rußwolke folgt. Dann zittern einige Metalldrähte neben dem Gleis, und das Signal, das Bauarbeiter der hier 1922 anlegten, springt von einem Draht gezogen nach oben und gibt für den Dieselzug der DB Regio den Weg in den Tübinger Vorortbahnhof frei. Der gut 25 Jahre alte Zug muss nur noch warten, bis der Gegenzug auf der eingleisigen Strecke ebenfalls im Bahnhof ist, dann röchelt er weiter Richtung Stuttgart.

Dort kommen er und ich, wenn es gute Wochen sind, in einem von vier Fällen einigermaßen pünktlich an. Deutlich häufiger erreicht er Stuttgart immer so, dass der direkte Anschluss-ICE in Richtung Rheinland gerade weg ist, manchmal verendet der Zug aber auch einfach irgendwo.

Insgesamt ist Tübingen laut einer Auswertung der baden-württembergischen Verkehrsgesellschaft damit ein trauriges Kapitel Nahverkehr, längst aber nicht das einzige. Laut dem letzten Qualitätsranking des Landes sinken Pünktlichkeit und Verlässlichkeit des Nahverkehrs in Baden-Württemberg fast nirgendwo so stark wie zwischen Tübingen und Stuttgart – eine der am meisten frequentierten Pendlerstrecken im Ländle –, aber sie verschlechtern sich auch insgesamt deutlich. Es fahren immer mehr Menschen Zug, die aber immer seltener wie geplant ihr Ziel erreichen.

Und es ist kein Phänomen Baden-Württembergs allein, sondern in fast allen Bundesländern zu beobachten. Mal fallen wegen Personalmangels Züge aus (wie derzeit zwischen Dortmund und Köln), mal wegen technischer Mängel (wie derzeit zwischen München und Nürnberg), mal, weil eine defekte Strecke zwei Jahre nicht repariert werden soll (wie derzeit zwischen Düsseldorf und Essen), und mal kapituliert ein Anbieter gleich ganz und stellt den Betrieb ein (wie zwischen Hamburg und Bremen).

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Ich behelfe mich auf zwei Arten: Ich fahre immer mindestens 45 Minuten früher, als ich müsste. Und ich habe mit einem örtlichen Taxiunternehmer eine Art Flatrate-System eingeführt: Er weiß, dass ich mich regelmäßig melde, dafür fährt er mich im Fall der Fälle zu einem günstigen Pauschalpreis zum Stuttgarter Hauptbahnhof. Obwohl – oder weil? - der Taxiunternehmer noch nie einen Fernverkehrszug betreten hat, ist er der größte Fan der Deutschen Bahn, der mir auf meinen Pendelstrecken begegnet.

Stuttgart–Mannheim: Wählen Sie nie ohne Not eine Umsteigeverbindung

Ich lerne so viele Orte kennen, an die ich nie gedacht hätte. Zum Beispiel habe ich eine innige Verbindung zu Mannheim.

Am dortigen Hauptbahnhof habe ich schon die Sonne auf- und untergehen sehen. Ich weiß, wann der Mann im Dean & David in der Regel das letzte Sandwich frisch belegt (19 Uhr) und wann in der Lounge für Vielfahrer der Deutschen Bahn der (immerhin seit wenigen Monaten neue) Kaffeeautomat sauber gemacht und damit außer Betrieb genommen wird (kurz nach 20 Uhr). Ich weiß, dass der Schreibwarenladen im Bahnhof meist Stifte verkauft, aber fast nie Notizbücher. Und ich habe nur einmal den Fehler gemacht, das Bahnhofsgebäude zu verlassen. Seitdem weiß ich, dass es außerhalb dieses Gebäudes nicht weniger trist ist als innen.

Das alles nur, weil Mannheim ein berüchtigter Umsteigebahnhof ist. Hier kreuzen sich vier der wichtigsten ICE-Linien der Bahn: Berlin–Basel, Rheinland–Basel, Berlin–München und Rheinland–München. Die Züge sind so aufeinander abgestimmt, dass man stündlich von jedem dieser Ziele zu jedem anderen fahren kann. Zumindest in der Theorie. In der Praxis klappt das nie, weil dafür ein Umstieg in Mannheim nötig wäre, für den aber nur drei bis sieben Minuten Umsteigezeit bleiben. In einer Welt, in der fast jeder zweite Fernverkehrszug zuletzt mehr als 5,59 Minuten Verspätung hatte, ist das eher Roulette als Routine.

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Für mich ergeben sich daraus die nächsten Regeln: Wenn ich wählen kann zwischen einer umsteigefreien Verbindung, die länger dauert, und einer Umsteigeverbindung in kürzerer Zeit, nehme ich die längere Verbindung.

Und: Es gibt gute und schlechte Umsteigebahnhöfe. Frankfurt-Flughafen zum Beispiel ist ein guter, Mannheim oder Hannover sind schlechte. Für mich gilt deswegen: Wenn es nur eine Umsteigeverbindung gibt, steige ich nicht in Mannheim, sondern am Halt Frankfurt-Flughafen auf eine andere ICE-Linie um, die ebenfalls nach Düsseldorf fährt. Das dauert zwar theoretisch länger – aber immerhin geht es nicht in 75 Prozent der Fälle schief, sondern nur in etwa einem Drittel. Und wenn, stehe ich wenigstens nicht in Mannheim.

Mannheim– Frankfurt Flughafen: Hoffen Sie auf die Generalsanierung, aber vertrauen Sie ihr nicht

Eigentlich wollte ich bereits am Vorabend nach Hause. Doch das ist in diesen Wochen nicht so einfach. Statt wie sonst eine stündliche Verbindung gibt es derzeit nur noch wenige pro Tag. Und die letzte, die am Donnerstagabend Düsseldorf noch verlassen hätte, hatte schon bei der Abfahrt mehr als eine Stunde Verspätung – sodass ich Tübingen gar nicht mehr erreicht hätte. Also bin ich gleich in Düsseldorf geblieben. Ich habe für solche Fälle längst einen steuerlich begünstigten Zweitwohnsitz, sodass ich nicht ständig spontan Hotels suchen muss.

Das Mittelrheintal bei Tagesanbruch ist ja auch ein schöner Anblick. Der Zug hat es im Gegensatz zu mir nicht eilig. Er fährt derzeit nicht die Schnellstrecke, die Köln mit Frankfurt verbindet, sondern wie vor 30 Jahren durch das Mittelrheintal. Der Grund: Die Bahn sperrt zwei ihrer wichtigsten Verbindungen über Wochen.

Die beliebte Pendlerstrecke, über die man in einer Stunde von Köln nach Frankfurt kommt, ist für einen Monat stillgelegt. Direkt dahinter müsste ich die Strecke nach Mannheim benutzen, die sogenannte Riedbahn. Die ist gleich für fünf Monate gesperrt. Damit will die Deutsche Bahn ihre meistbenutzte Strecke komplett erneuern.

Mehr: Modeleisenbahn: Dieser Unternehmer hat 84 Zugstrecken gekauft

Generalsanierung heißt das Konzept, auf das sich Verkehrsminister Volker Wissing mit dem Bahn-Vorstand geeinigt hat. Für mich und Zehntausende andere Pendler pro Tag heißt das allerdings: Die Fahrt verlängert sich für fünf Monate um mindestens eine weitere Stunde, manchmal geht sie auch nur im Bus weiter (die sind sehr schön pink lackiert, brauchen aber dennoch sehr lange). Und das ist erst der Anfang.

Zum einen, weil nicht viele Experten dem Bahn-Vorstand, dem seit Jahren eine Art Versagensgarantie anhaftet, zutrauen, die Arbeiten wirklich in fünf Monaten abzuschließen. Zum anderen, weil auf diese Generalsanierung weitere an unzähligen anderen Strecken folgen.

Es muss erst schlimmer werden, damit es besser wird, ist die Strategie. Bisher hat die Bahn eine wirkliche Umsetzungsperspektive halt leider nur für den ersten Teil dieser Strategie.

Frankfurt Flughafen–Köln: Bleiben Sie autark – egal, was man Ihnen verspricht

Dem Zug von Düsseldorf nach München geht an einem Sommertag im vergangenen Jahr irgendwo zwischen Siegburg und Frankfurt die Puste aus. Erst bremst er von 300 auf 100. Dann ruckelt es, und Stück für Stück kommt das Gefährt zum Stillstand. Ein Zugbegleiter sagt durch, dass er leider auch nicht wisse, was gerade passiert sei. Er werde sich aber wieder melden, wenn er mehr wisse. Von ihm hören wir dann lange nichts.

Irgendwann taucht ein Zugführer auf, macht sich an einer Art Schaltkasten zu schaffen und schimpft dann in ein Telefon: „Mit so einem Schrott hätten die niemals losfahren dürfen.“ Sind sie aber, was das Gefühl für die Fahrgäste nicht besser macht. Die können sich in den nächsten 15 Minuten die Landschaft rund um Montabaur im Detail anschauen, so langsam setzt der Zug seine Fahrt fort. Dann dürfen alle Menschen den Zug verlassen, um angeblich wenig später von einem folgenden Zug aufgenommen zu werden.

Als der eintrudelt, stellt sich heraus, dass auch er eher voll als leer ist. Irgendwo eingeklemmt zwischen Klotür und Ausgangstreppe geht es schließlich bis Frankfurt-Flughafen. Dort wird unter der Versprechung von Gutscheinen versucht, die überschüssigen Reisenden aus dem Zug zu bekommen.

Ich weiß, es ist weder solidarisch noch vernünftig: Aber lassen Sie sich nie auf ein solches Angebot ein. Der Zug wird schon irgendwann weiterfahren. Und Sie werden Ihren 50-Euro-Reisegutschein nicht genießen, wenn Sie danach zwei Stunden auf die nächste Mitfahrgelegenheit warten, die auch wieder überfüllt sein wird – wie mittlerweile fast jeder Zug auf der Schnellstrecke zwischen Frankfurt und Köln.

Deswegen lohnt es sich, seine Fahrten genau zu legen. Wechseln Sie etwa zwischen frühmorgens und spätabends als Reisezeitraum, meiden Sie aber, tagsüber zu reisen. Da sind zu viele Gelegenheitsfahrer im Zug, die die Abläufe behindern. Meiden Sie aber den Montagmorgen und den Freitag. Nirgendwo treffen Sie so viele schlecht gelaunte Menschen wie in den ersten beiden Zügen montags morgens. Und freitags tummeln sich zu viele Ausflügler im Zug.

Reisen Sie am besten montags abends, dienstags früh und donnerstags abends. Wenn Sie es mit Ihrem Arbeitgeber einrichten können, auch mittwochs abends. Leerer wird es nicht.

Das liegt vor allem an Strecken wie ebenjener zwischen Frankfurt und Köln, im Pendlerdeutsch KRM (für Schnellstrecke Köln–Rhein/Main) genannt, eigentlich ein Segen. Mein Arbeits- und Lebensmodell wäre ohne sie gar nicht möglich. Und so geht es vielen.

Und wer wie ich mit diesen Menschen, die meist täglich die eine bis eineinviertel Stunde ICE fahren, beobachtet, lernt ihre Überlebenstricks.

Dazu gehört: Autark bleiben, wann immer es geht. Der ICE führt ein Bordbistro? Eine immer wachsende Zahl an Speisen, bei denen selbst an Veganerinnen oder Bio-Esser gedacht wurde? Lassen Sie sich nicht blenden: Den Großteil dieser Speisen und Getränke werden Sie nie in einem ICE entdecken. Es sind potemkinsche Dörfer aus Mikrowellenverpackungen und Lebensmitteln. Denn mal ist das Bordbistro defekt, mal klappt die Nachschublogistik nicht, mal fehlt es an Personal.

Und wenn Sie wirklich nichts dabeihaben und deswegen Ihre Chance auf Versorgung etwas erhöhen wollen: Achten Sie darauf, nicht in einen der neueren ICE 4 mit den vielen Waggons zu geraten, sondern in einen der 300 Stundenkilometer schnellen ICE 3 – hier ist die Küche zwar ähnlich oft leer wie in dem anderen Zugtyp, aber etwas seltener kaputt. Sie erkennen übrigens ganz unten in der Wagenreihungsanzeige des DB Navigators, welcher Zugtyp auf dem Weg zu Ihnen ist.

Bleiben Sie auch in Sachen Internet autark. Zwar wirbt die Bahn bei den ICEs neuester Generation mit besonders mobilfunkdurchlässigen Scheiben und neuer WLAN-Technik. Allein: Das Internet tut es den Zügen gleich – es ist entweder zu langsam oder erreicht sein Ziel gar nicht. Ein Telekom-Mobilfunkvertrag mit hohem Datenvolumen funktioniert bei mir am zuverlässigsten – das kann auf anderen Strecken aber auch anders sein.

Köln–Düsseldorf: Machen Sie sich mit den Absurditäten des Bahn- Alltags vertraut

Es ist der Montag vorvergangener Woche, als ich gegen 23 Uhr an einem Bahnsteig des Kölner Hauptbahnhofs strande und warte. Der ICE 100 soll laut Anzeigetafel um 23.10 Uhr den Bahnhof Richtung Düsseldorf verlassen. Um 23.22 Uhr stehe ich immer noch am Bahnsteig.

Der Zug kommt schließlich doch und fährt um kurz nach halb zwölf los, um sechs Minuten später zu bremsen. Schließlich ertönt eine Durchsage, man habe Köln leider nicht Richtung Düsseldorf, sondern Richtung Wuppertal verlassen. Man müsse jetzt erst mal die ursprüngliche Strecke suchen. Gegen 1.00 Uhr statt 23.30 lande ich in Düsseldorf.

Was in diesen Momenten gar nicht hilft: Zorn aufkommen lassen. Es gilt, sich an die Absurditäten des Bahnalltags zu gewöhnen.

Mehr: Hier liegt die größte deutsche Stadt ohne Bahnhof

Es lohnt sich etwa, die verschiedenen Baureihen der ICE-Züge zu lernen. Mindestens 14 davon gibt es derzeit. Alle haben unterschiedliche Wagenreihungen und Sitzplatzanordnungen. Mal gibt es trotz gleicher Anzahl an Wagen einen Wagen 26 und dafür keinen Wagen 27, mal ist es andersherum. Mal befindet sich in Wagen 26 eine erste Klasse, mal das Bordbistro, mal die zweite Klasse. Mal trägt der erste Wagen die Nummer 1, mal 21. In älteren ICEs zählen die Platznummern von vorn im Wagen aufwärts, in neuen ICE-Zügen von hinten.

Das Problem: Wenn wie täglich mehrere Dutzend Mal ein vorgesehener Zug ausfällt, gibt es – wenn überhaupt – als Ersatz irgendeinen, der gerade herumsteht. Das ist meist ein Zug einer anderen Baureihe. So bricht jedes Mal Sitzplatzchaos aus. Wenn Sie als Vielfahrer die Besonderheiten der

Baureihe indes kennen, wissen Sie schon, wo am Bahnsteig Sie sich platzieren müssen, um eine Chance auf einen Platz hoch zu halten.

Oder die Sache mit der Live-Auskunft. Denken Sie nicht, die Live-Auskunft im DB Navigator sei eine Live-Auskunft in dem Sinne, dass die Daten dort live erhoben würden. Es ist stattdessen eine wirre Sammlung an Zahlen, deren genauen Ursprung Ihnen selbst lang gediente Bahn-ITler nicht nennen können. Manche davon werden auch einfach händisch eingegeben.

Verlassen Sie sich deswegen niemals auf Prognosen. Ich habe schon in Stuttgart übernachtet, weil ich der Ankündigung von 25 Minuten Verspätung glaubte und dann nach 15 Minuten nur noch die Rücklichter sah.

Wollen Sie einen Platz reservieren und Ihr Zug besteht aus zwei Zugteilen: Reservieren Sie nie in dem Zugteil mit den Wagennummern 31 bis 39. Fällt einer der beiden Teile spontan aus, ist es immer der Zugteil mit den 30er-Wagennummern. Ihr Platz ist dann weg.

Lernen Sie überhaupt, wie der Bahn-Vorstand zu denken, nur nicht so einfältig. Antizipieren Sie Probleme, die Sie als Kunde eigentlich gar nichts angehen. Wenn Ihr Zug in Stuttgart als pünktlich angezeigt wird, sich aber nichts tut, schauen Sie, ob er überhaupt in München losgefahren ist. Interessiert Sie die tatsächliche Wagenreihung Ihres Zugs, damit Sie nicht am falschen Ort am Bahnsteig stehen, schauen Sie immer in die App und nie auf die Bahnsteiganzeige, in dem Fall ist die App meist richtig.

So können Sie von einem weiteren Wunder der Deutschen Bahn profitieren: Manchmal tauchen wie aus dem Nichts Züge auf, mit denen niemand gerechnet hat. Sie tragen meist Zugnummern, die mit 25 oder 29 beginnen, und sind Ersatzzüge, die oft in keiner Auskunft geführt werden, aber dennoch fahren. Es ist eben nicht so, dass die Bahn nur nimmt. Manchmal gibt sie Ihnen auch. Und wenn es nur der Rest ist.

Ich gebe zu, vor zwei Wochen habe ich einfach mal aus Interesse geschaut, ob ein Flug nicht eine Alternative wäre. 30 Minuten mit dem Auto zum Flughafen Stuttgart, dann eine Stunde Flug nach Düsseldorf, dann 20 Minuten vom Flughafen ins Büro. In der Theorie ein Traum. Praktisch bietet keine Airline diesen innerdeutschen Flug mehr an. Es gibt dafür sehr viele gute Gründe, aber auch ein trauriges Ergebnis: Ich bleibe eine Geisel der Bahn.

Einmal in den letzten drei Jahren bin ich die Strecke auch mit dem Auto gefahren. Ich habe siebeneinhalb Stunden gebraucht. Und kurzzeitig hatte ich ein Gefühl, das ich in all den Jahren nie hatte: Sehnsucht nach der Bahn.

Storytelling: Agatha Kremplewski, Infografik: Juraj Rosenberger, Bildredaktion und Montage: Michel Becker

Nachweis Hintergrundbilder: 1. dpa; 2., 3., 4., 6. DB/Picture Alliance/mbecker [M], 5. dpa/Picture Alliance/mbecker [M]

Erstpublikation: 09.08.2024, 15:00 Uhr.

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