Diese Website verwendet Funktionen, die Ihr Browser nicht unterstützt. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf eine aktuelle Version.

„Wir Alkoholiker spielen der gesamten Welt vor, dass alles in Ordnung ist“

Fabian Weihrauch trank am Tag fast zwei Flaschen Korn. Dank einer Erkenntnis, die sein Leben veränderte, hörte er auf. Heute berät er Unternehmen im Umgang mit Alkoholismus – und weiß, wie weit verbreitet die Sucht wirklich ist.

Teresa Stiens 21.06.2024 - 15.00 Uhr







Als Fabian Weihrauch zum ersten Mal begriff, dass es eine Art Zaubertrank in seinem Leben gab, war er acht Jahre alt und trank vier Flaschen alkoholfreies Bier. Obwohl es furchtbar schmeckte und seinen kleinen Magen mit viel zu viel Flüssigkeit füllte, trank er immer weiter. Er saß mit seiner Familie beim Angeln und bekam für den Griff zur nächsten Flasche zwei Dinge, die ihm zuvor verwehrt geblieben waren: Aufmerksamkeit und Anerkennung.

Denn sein Vater, für den Alkohol selbst eine sehr wichtige Rolle spielte, sah dem Sohn beim Anstoßen direkt in die Augen. In diesem Augenblick fühlte sich Fabian Weihrauch von seinem Vater zum ersten Mal in seinem Leben wirklich gesehen.

Heute, mit 38 Jahren, weiß Weihrauch, dass diese tiefe Sehnsucht nach Aufmerksamkeit ein Element seines Lebens ist, das ihn immer begleiten wird. Ein Bedürfnis, das er über Jahre mithilfe von Substanzen zu stillen versuchte. In seiner Familie war Alkohol allgegenwärtig – als Genussmittel, Seelentröster und tagtäglicher Begleiter.

Ein Weg, den auch Fabian Weihrauch einschlug. Aus dem alkoholfreien Bier wurde alkoholhaltiges, aus Bier wurde Schnaps, er entdeckte auch Marihuana, Koks und Opioide. Konsumierte so lange und so viel, bis er nicht mehr ohne konnte. Heute weiß er, dass er nur von der Flasche fernbleiben kann, wenn er seine Sehnsucht nach Aufmerksamkeit auf anderen Wegen befriedigt. Dazu muss er radikal er selbst sein. Er sagt, was er denkt – in jeder Situation und gegenüber allen, die er trifft.

Der Suchtbeauftragte Fabian Weihrauch. Foto: Kopfmedia

Wenn Fabian Weihrauch anfängt zu erzählen, richtet sich die Aufmerksamkeit der Abteilungsleiter und Personaler im Raum automatisch auf ihn und seine Geschichte. Er steht in einem Konferenzsaal eines mittelständischen Unternehmens in Nordrhein-Westfalen, in Turnschuhen und Khakihose. Er ist an Kopf und Hals tätowiert und berichtet in tiefem brandenburgischen Dialekt von seinen Erlebnissen. Wie der Alkohol in sein Leben kam, eine immer größere Rolle einnahm und ihn am Ende fast alles kostete.

Er erzählt diese Geschichte oft, manchmal mehrmals die Woche in Unternehmen in ganz Deutschland. Seine Zuhörerinnen und Zuhörer sind Führungskräfte, die lernen sollen, wie sie mit Alkoholismus am Arbeitsplatz umgehen. Doch am Ende geht es um viel mehr als um arbeitsrechtliche Fragen und Personalverantwortung – es geht darum, wie Millionen Menschen in Deutschland ihr Wohlergehen von einer Substanz abhängig machen. Wie Alkohol oft schleichend in ihr Leben tritt und es nach und nach komplett vereinnahmt. Wie die Sucht Familien zerstört, den Arbeitsplatz kostet und schlussendlich sogar das Leben.

0

Menschen in Deutschland zwischen 18 und 64 Jahren

haben einen problematischen Alkoholkonsum, so das Bundesgesundheitsministerium.















0

Menschen ließen sich im Jahr 2022 ambulant oder stationär

wegen ihrer Alkoholsucht laut des Barmer Instituts für Gesundheitssystemforschung (bifg) behandeln.













0

Menschen etwa, darunter 10.600 Männer und 3600 Frauen, starben im Jahr 2020

an einer ausschließlich durch Alkoholkonsum bedingten Krankheit. Die Zahlen stammen aus dem Alkoholatlas Deutsches Krebsforschungszentrum.





Fabian Weihrauch erzählt seine Geschichte, um Geld zu verdienen, um aufzuklären und Unternehmen vor Fehlern im Umgang mit Alkoholmissbrauch zu bewahren. Aber er erzählt sie auch, weil er jeden Tag gegen die Wahrscheinlichkeit ankämpft, die gegen ihn spricht.

Er sagt:

Es ist wahrscheinlicher, dass ich morgen wieder trinke, als dass ich nicht trinke.

Seit 15 Jahren gewinnt er diesen Kampf, jeden Tag aufs Neue. Auch weil er verstanden hat, welche Rolle der Alkohol in seinem Leben spielte und wie er sein Leben verändern musste, um trocken zu bleiben – gegen alle Wahrscheinlichkeiten.

Die Schulzeit







Weihrauch redet viel und gerne, sagt „icke“ und „jetze“ wie in seiner Heimat üblich und schert sich nicht darum, welche Wörter in welchem Kontext möglicherweise unangebracht erscheinen. Wenn er davon erzählt, betrunken gewesen zu sein, sagt er „Voll wie ’ne russische Haubitze.“ Indem er so radikal authentisch ist, schafft er es, die Menschen in seinen Bann zu ziehen. Sie geben ihm dafür seine wichtigste Währung: ihre Aufmerksamkeit. Über seine Kindheit sagt er:

In der Schule hat es mir geholfen zu trinken, weil ich damit das Gehirngeficke abstellen konnte.

Er spricht dabei von seiner inneren Unruhe, die er stets verspürte. Mit ein bisschen Bier konnte er sie abstellen, sich beruhigen und so auch besser konzentrieren. Als seine Lehrerin die Eltern in die Schule zitierte, weil ihr Sohn eine Alkoholfahne hatte, sagte ihm sein Vater: „Bist du bescheuert, Bier zu trinken? Die Fahne riecht doch jeder – trink doch lieber Wodka.“

Die Jugend von Fabian Weihrauch war von Alkohol geprägt. Foto: Privat

Später, im Jahr 2010, diagnostizierte das Universitätsklinikum Freiburg bei Weihrauch eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS. Eine Störung, die viele Menschen mit Alkohol und anderen Drogen zu medikamentieren versuchen – und dadurch in die Abhängigkeit geraten. Das „Deutsche Ärzteblatt“ schreibt: „Jugendliche mit einer ADHS-Störung haben ein höheres Risiko, suchtkrank zu werden, als ihre Altersgenossen.“

Mehr: ADHS: Digitale Therapie-Spiele sollen Betroffenen helfen

Der schleichende Weg in die Sucht

Doch der Weg in die Sucht ist von Mensch zu Mensch verschieden. Weihrauch hat bei seiner Arbeit immer wieder Fälle gesehen, in denen das Trinken vermeintlich harmlos begann und dann immer mehr Raum im Leben einnahm. Seit zehn Jahren berät er Unternehmen im Umgang mit Alkoholmissbrauch am Arbeitsplatz. Er gibt Seminare und wird zu Hilfe gerufen, wenn eine Situation eskaliert. Dadurch hat er viele Einblicke in die Suchtprobleme der deutschen Wirtschaft erhalten.

Eines haben alle Fälle gemein: „Dahinter steckt immer ein Alkoholproblem“, sagt Weihrauch. Ein Problem also, das der Alkohol lösen soll.

Oft passiert das schleichend. Weihrauch erzählt von einem hochrangigen Mitarbeiter einer großen Beratergesellschaft, zuständig für Unternehmensfusionen. Der Mann reiste viel, saß mehr in Flugzeugen und Hotelzimmern als bei sich zu Hause. „Er hatte natürlich oft einen Jetlag und dadurch Schwierigkeiten, einzuschlafen“, sagt Weihrauch. Schnell merkte der Berater, dass er besser schlafen konnte, wenn er beim abendlichen Geschäftsessen ein paar Gläser Wein getrunken hatte.

Eine scheinbar einfache Lösung für sein Problem. Also begann er, auch allein im Hotelzimmer abends ein, zwei Gläser Wein zu trinken.







Über die Jahre erhöhte sich die Trinkmenge: Aus zwei Gläsern wurde eine Flasche, aus einer Flasche wurden zwei Flaschen. „Aber auf so einer hohen Führungsebene ist es ja durchaus anerkannt, guten Rotwein zu trinken“, sagt Weihrauch. Bis ein Alkoholmissbrauch auffällt, dauert es also in der Regel länger.

Was sind die Warnzeichen einer Sucht am Arbeitsplatz?

1. Zunehmend häufiges unentschuldigtes Zuspätkommen

2. Erhöhte Fehlzeiten, die häufig auftreten, aber nur einige Tage andauern

3. Besondere Gerüche nach Alkohol oder auch nach viel Parfüm oder Menthol

4. Getuschel unter den Mitarbeitern

5. Zunehmende soziale Isolation

6. Starke emotionale Stimmungsschwankungen

7. Abwechselnde Phasen von Perfektionismus und Flüchtigkeitsfehlern

Irgendwann begann der Berater, den allmorgendlichen Kater mithilfe von Medikamenten zu behandeln. Doch dann fürchtete er, von den Medikamenten abhängig zu werden – bis sein Arzt ihm sagte, er solle sich doch lieber seinen Alkoholkonsum mal genauer anschauen und eine Therapie machen. „Er hat es dann geschafft, sein Problem von Stress und Schlaflosigkeit zu lösen, indem er den Job gewechselt hat“, erinnert sich Weihrauch.

Mehr: Red Flags, bei denen Sie am besten in der Probezeit kündigen

Die große Show der Alkoholiker

Je früher es gelingt, das Alkoholproblem zu erkennen und sich Hilfe zu holen, desto besser. Bei Fabian Weihrauch war es ein langer Prozess. Einen Suizidversuch hat er hinter sich, mit 2,8 Promille fuhr er gegen einen Baum, überlebte. Auch danach steigerte er die Trinkmengen immer weiter, bis er jeden Tag das Alkoholäquivalent von anderthalb Flaschen Korn konsumierte. Trotzdem absolvierte er eine duale Ausbildung, arbeitete in einem Baumarkt. Seinen Alkoholkonsum zu decken, ihn vor den Kollegen zu verstecken und gleichzeitig noch zu arbeiten, glich einer logistischen Meisterleistung.

Morgens meldete er sich freiwillig, um gegen sechs Uhr den Markt aufzuschließen. Das verschaffte ihm etwa zwanzig Minuten Zeit, um volle Flaschen in das Zwischenlager zu bringen, sie dort zu deponieren und leere Flaschen einzusammeln. Während der Arbeitszeit konnte er dort dann heimlich trinken.

Wir Alkoholiker spielen der gesamten Welt vor, dass alles in Ordnung ist.

Fabian Weihrauch







Der energetische Aufwand, um diesen Schein zu gewährleisten, sei schier absurd. „Du musst die vielen Flaschen ja auch besorgen und kannst dann nicht immer zum gleichen Supermarkt fahren, sonst fällt denen ja auf, wie viel du kaufst.“

Weihrauch erzählt gerne vom Harald Juhnke, dem berühmten Schauspieler und Entertainer, der zeitlebens gegen seine Alkoholsucht kämpfte. Von Juhnke stammt der Spruch:

Meine Definition von Glück? Keine Termine und leicht einen sitzen.

Harald Juhnke







Weihrauch vergleicht sein Leben mit Alkohol mit dem Auftritt eines Entertainers. „Du stehst auf der Bühne und machst eine Show, damit niemand auf die Idee kommt zu schauen, was hinter dem Vorhang eigentlich los ist.“ Oft ist diese Show so gut, dass der Betroffene damit auch sich selbst etwas vormacht.

Wenn der Vorhang fällt



Doch mit der Zeit wird das Scheinbild eines heilen Lebens immer schwieriger aufrechtzuerhalten. Zu Menschen, die ihn auf seine hohe Alkoholtoleranz ansprachen, brach Weihrauch den Kontakt ab, sprach gegenüber anderen schlecht über sie, damit niemand auf die Idee kam, er habe wirklich ein Problem. Ein typisches Verhalten für einen Menschen mit Alkoholkonsumstörung.

Süchtige sind sehr gut in der Lage, andere zu manipulieren

Deshalb dauert es auch am Arbeitsplatz oft sehr lange, bis das Alkoholproblem eines Mitarbeiters offensichtlich wird. Oft schafft es der oder die Süchtige, das Umfeld zu überzeugen, dass es sich nur um eine Phase handle – dass der gesteigerte Alkoholkonsum dazu da sei, um mit vorübergehenden privaten Problemen umzugehen. Doch tatsächlich handelt es sich bei Alkoholismus um eine progressive Krankheit, die ohne Behandlung nicht von allein wieder verschwindet.

Wie sollte ein Arbeitgeber mit alkoholisierten Mitarbeitern umgehen?

1 Was ist zum Thema Alkoholkonsum in der Betriebsvereinbarung geregelt?

2 Wie hochgradig ist der Mitarbeiter alkoholisiert?

3 Bei hoher Alkoholisierung und Sorge vor Selbst- oder Fremdgefährdung: Polizei und/oder Rettungsdienst rufen

4 Bei mittlerer Alkoholisierung: Einen sicheren Heimtransport organisieren, denn die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers endet erst an der Türschwelle der Wohnungseingangstür

5 Ansprache des Mitarbeiters am Folgetag mit weiterem leitenden Angestellten

6 Ein Alkoholtest kann nur nach Einwilligung des Mitarbeiters durchgeführt werden

Fabian Weihrauch berichtet von einem Fall aus einem Unternehmen im Gesundheitsbereich, in dem er zur Unterstützung und Aufklärung hinzugezogen wurde.

Ein langjähriger Mitarbeiter, der als unauffällig, ruhig und fröhlich bekannt war, zeigte am Arbeitsplatz charakterliche Veränderungen, wurde leichter reizbar und litt unter Stimmungsschwankungen. Irgendwann wurde offensichtlich, dass er alkoholisiert zur Arbeit kam.

Mehr: So schaffe ich es seit Jahren, keinen Alkohol zu trinken

Doch seine Kolleginnen und Kollegen nahmen ihn lange in Schutz und deckten ihn, um zu verhindern, dass der Familienvater seinen Arbeitsplatz verlor. So dauerte es eine Weile, bis der Geschäftsführer von den Vorfällen erfuhr. Als er den Angestellten zum Gespräch bat, reagierte dieser abweisend, aggressiv und sagte: „Ich habe gerade andere Probleme, aber alle reden immer nur von dem Alkohol“, so erzählt es der Geschäftsführer heute.

Doch die Ansprache schien gewirkt zu haben – über Monate verhielt sich der betroffene Mitarbeiter auf der Arbeit unauffällig. Bis er eines morgens, weit vor seiner Arbeitszeit, im Unternehmen auftauchte und anfangen wollte, seine Arbeit zu verrichten.



Das Problem: Er war dabei stark alkoholisiert und trug Frauenkleidung. Nachdem das Unternehmen dem Mitarbeiter mit Kündigung gedroht hatte, ging er in den Entzug.











Fabian Weihrauch warnt Arbeitgeber an dieser Stelle: „Wenn sich der Mitarbeiter selbst zum Alkoholismus bekennt, ist das eine Krankheit, die eine verhaltensbedingte Kündigung ausschließt.“ Dann kommt es darauf an, welche Gesundheitsprognose der Mitarbeiter hat und ob er bereit ist, professionelle Hilfe anzunehmen.

Eine Erkenntnis der Suchttheorie lautet, dass der Süchtige sich selbst eingestehen muss, dass er ein Problem hat – und bereit sein muss, etwas zu verändern. Ein Punkt, der für Außenstehende nur schwierig herbeizuführen ist. Trotzdem ist es laut Fabian Weihrauch wichtig, Menschen mit Alkoholproblem darauf anzusprechen. „Bei suchtkranken Menschen ist das Prinzip der Nadelstiche extrem wichtig“, sagt er. „Je öfter du den Betroffenen auf die Thematik ansprichst, je höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es irgendwann in ihm Klick macht.“

Bei Weihrauch selbst setzte ein Psychologe einen dieser wichtigen Nadelstiche. Wegen körperlicher Beschwerden musste Weihrauch in eine Rehaklinik.

Seine Beine hatten angefangen zu streiken, er saß mit Anfang zwanzig zwischenzeitlich im Rollstuhl. Ein Schaden, den er heute auf seinen hohen Alkoholkonsum zurückführt.







In dieser Klinik sollte er auch mit einem Psychologen sprechen, der nach nur wenigen Sitzungen zu ihm sagte:

„Sie haben zwei Möglichkeiten. Entweder Sie kommen weiter morgens um zehn hierher mit einer Fahne, die zehn Meter lang ist, und es wird sich in Ihrem Leben nichts ändern. Oder Sie hören auf zu saufen. Dann haben Sie die Chance, dass sich in Ihrem Leben etwas verbessern kann.“

Doch nach einiger Zeit ging es Weihrauch körperlich wieder besser, er schaffte es mit Krücken, wieder zu laufen. „Dann habe ich mir gedacht: Wieso soll ich denn was ändern? Und hab einfach weitergemacht wie vorher.“ Doch zum ersten Mal hatte er den Gedanken zugelassen, sich zu fragen, ob es in seinem Leben nicht doch ein größeres Problem gab.

Die Einsicht



Seinen letzten Tropfen Alkohol trank Weihrauch im November 2008. Er war nach der Reha wieder nach Hause zurückgekehrt und hatte sich vorgenommen, die Prüfungen für sein Diplom nachzuholen, die er während seiner Krankheit verpasst hatte. Drei Wochen gab ihm der Studiengangsleiter, um sich auf die Klausuren vorzubereiten. Doch schnell merkte Weihrauch, dass er große Probleme hatte, sich die Inhalte zu merken. „Da bin ich zum ersten Mal auf die glorreiche Idee gekommen, dass ich vielleicht was verändern sollte“, sagt Weihrauch.

Er habe sich gesagt: „Am besten du hörst ma’ auf zu saufen, und dann wird ditt schon besser.“

Abends um acht beschloss er, die nächsten zweieinhalb Wochen nicht mehr zu trinken. „Das hat hervorragend funktioniert bis morgens um halb drei“, sagt Weihrauch. Dann lief er zu Fuß zur nächsten Tankstelle, kaufte sich eine Flasche billigen Rotwein und trank sie leer.





Für Weihrauch war das der Moment, den die Suchtforschung als „rock bottom“ bezeichnet: sein absoluter persönlicher Tiefpunkt.







Als er den Kopf in den Nacken legte, die Flasche an den Mund führte und vom Licht der Straßenlaterne geblendet wurde, schoss ihm die Erkenntnis durch den Kopf: „Scheiße, du hast ditt nich’ mehr im Griff.“

„Für diese Feststellung bin ich unendlich dankbar“, sagt Weihrauch heute. Am nächsten Tag rief er seine Hausärztin an, um einen Platz für Entgiftung und Therapie zu finden. Bis er den Entzug antreten konnte, trank er weiter. Den Alkohol ohne ärztliche Aufsicht einfach abzusetzen hätte ihn an diesem Punkt möglicherweise in Lebensgefahr gebracht.

Am 3. November 2008 fuhr ihn sein Bruder in den klinischen Entzug nach Freudenholm-Ruhleben. Nach drei Wochen in der Entzugsklinik wechselte er in die Langzeittherapie.

Das Leben danach

Als Entzug und Therapie vorbei waren, hatte Weihrauchs Hochschule seinen Studiengang geändert zum Bachelor of Arts, sodass er zwei Semester wiederholen musste. Seine Abschlussarbeit schrieb er zum Thema „Suchtprävention in Betrieben“. Das hatte einen einfachen Grund:

Ich hab mir die Frage gestellt, wie es sein kann, dass der Weihrauch mit drei Promille von morgens bis abends durch den Baumarkt rennt und keene Sau das mitbekommt.

Eine Frage, die ihn bis heute umtreibt. Nach seinem Bachelorabschluss arbeitete er zunächst als Selbstständiger bei der Deutschen Vermögensberatung. Bis ihn ein ehemaliger Dozent seiner Hochschule in Lörrach bat, Vorträge zum Thema Suchtprävention am Arbeitsplatz zu halten. Auch von Unternehmen wurde er angefragt, sodass er sich schließlich entschloss, sich dem Thema hauptberuflich zu widmen. Zu seinen Kunden zählen unter anderem die Krankenkasse AOK, Stahl Chemicals, das Entsorgungswerk für Nuklearanlagen (EWN) und einige andere Unternehmen, die nicht öffentlich genannt werden möchten. Weihrauch betont immer wieder: „Alkoholismus ist ein Gesetz der Zahl.“

Was er damit meint? Wenn statistisch gesehen mehr als jeder zehnte Mensch einen problematischen Alkoholkonsum hat, sind darunter Menschen aller Berufsgruppen – etwa auch Piloten, Vorstandsmitglieder oder Chirurginnen. „Es ist ein Vorurteil, dass nur Menschen aus bestimmten sozialen Schichten von Alkoholismus betroffen sind.“

Dass Fabian Weihrauch trocken geblieben ist, grenzt statistisch gesehen an ein kleines Wunder. Denn auch mit professioneller Hilfe erleben zwischen 70 und 80 Prozent der Alkoholikerinnen und Alkoholiker schon im ersten Jahr nach dem Entzug einen Rückfall. Er hat eine Familie gegründet, lebt mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Süddeutschland.

Fabian Weihrauch mit seiner Familie. Foto: Kopfmedia

Weihrauch weiß, dass er sich auch nach 15 Jahren nie ganz sicher sein kann, nicht doch wieder rückfällig zu werden. Bevor er ein Essen bestellt, fragt er den Kellner, ob die Soße auch wirklich nicht mit Weißwein verfeinert wurde. Seine Arbeit ist seine eigene Form der Selbsttherapie. „Ditt, was ich mache, ditt mache ich nich’ für euch, ditt mache ich nur für mich“, sagt er ganz offen seinen Teilnehmern. Immer und immer wieder arbeitet er so seinen Weg mit dem Alkohol auf – ein Weg, der ihn fast in den Tod geführt hätte.

Hier finden Sie Anlaufstellen, an die Sie sich bei einem Suchtproblem wenden können:

  • Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bietet für 0,20 € pro Anruf jeden Tag von 8 bis 24 Uhr eine telefonische Beratung an. Telefon: 01806 313031
  • Unter diesem Link finden Sie Informationen zu Suchtberatungsstellen der Caritas in Ihrer Nähe.
  • Das Blaue Kreuz bietet deutschlandweit Suchtberatungsstellen und Selbsthilfegruppen für Betroffene und Angehörige an.
  • Bei der Beratungsplattform Digisucht können Sie als Betroffene oder Angehörige einen digitalen Termin mit Suchtberatern vereinbaren.

Text: Teresa Stiens, Redigatur: Sven Prange, Storytelling und Bildbearbeitung: Agatha Kremplewski, Bildredaktion: Tobias Böhnke und Agatha Kremplewski

Bildnachweise Hintergrundbilder (in dieser Reihenfolge): Fabian Weihrauch (1, 2, 3, 4), IMAGO / Pond5 Images (5, 6), IMAGO / Zoonar (7,8), IMAGO / Gueffroy (9,10), Midjourney/tboehnke (11,12), IMAGO / Depositphotos (13,14), IMAGO / VWPics (15,16)

© 2023 Handelsblatt GmbH - ein Unternehmen der Handelsblatt Media Group GmbH & Co. KG