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Wie digitalisiert man eine analoge Ikone?

Die Berliner Philharmoniker gehören seit mehr als 100 Jahren zu den besten Orchestern der Welt. Wie befördert man einen erfolgreichen Klangkörper in die digitale Zukunft?

Von Thorsten Firlus 13.09.2024 – 15:00 Uhr

Der Architekt Hans Scharoun hat beim Bau der Berliner Philharmonie offenbar eine Zukunft erahnt, in der große Mengen an Bildern und Tönen um den ganzen Erdball geschickt werden: Er plante Ende der 50er-Jahre eine rautenförmige Öffnung im großen Keil ein, der sich von oben zwischen die hinteren Zuschauerblöcke im Großen Saal schiebt.

„Dort ist Kamera fünf untergebracht, die die Totale des gesamten Saals einfängt. Scharoun hatte diesen Ort als Platz für eine Kamera bereits vorgesehen“, sagt Tonmeister Christoph Franke heute, 61 Jahre nach der Eröffnung des Konzerthauses.

Eine der Kameras im Großen Saal. Foto: Peter Adamik

Franke verantwortet als Creative Producer die Tonaufnahmen, die das Orchester von seinen Konzerten macht. In einem von sechs von Scharoun geplanten Studios ist Frankes Arbeitsplatz während der Konzerte.

„Eines davon war ein Leerstudio, in dem früher die Schallplattenfirmen ihre Technik aufbauten“, sagt Franke. Dieses Studio ist heute mit fest installierter Videotechnik belegt, hier wird parallel zur Aufführung die Übertragung von acht Kameras zusammengeschnitten.

Blick ins Studio der Philharmoniker. Foto: Stefan Höderath

In Echtzeit geht das Konzert von Berlin in die Welt. Im Saal die gut 2400 Zuschauer, draußen je nach Programm noch mal mehr als doppelt so viele zahlende Zuschauer im Stream. Sie sehen zu, wenn die Musiker Melodien, Rhythmen und Harmonien in einer gemeinsamen Anstrengung zum Leben erwecken und Momente musikalischen Zaubers entstehen lassen, die in Block C ebenso zu erleben sein sollen wie Tausende Kilometer entfernt vor dem Monitor oder gar am iPhone.

Das Studio, kaum sichtbar für die Zuschauer im Obergeschoss des Großen Saals der Philharmonie, symbolisiert den Weg, den das Orchester genommen hat – um sich zu wappnen für die Zukunft, den Medienwandel, die sich auch verändernde Klassikwelt.

Deutschland ist für Klassikmusiker aus aller Welt noch immer ein beliebtes Ziel.

110 öffentlich finanzierte Orchester mit in Summe 8544,65 Planstellen finden sich hier, vom Sinfonieorchester Aachen bis zur Württembergischen Philharmonie Reutlingen.

Die Berliner Philharmoniker sind das Aushängeschild. 2023 wurden sie zum besten Orchester der Welt gewählt und sind auch ohne Ranglisten neben den Wiener Philharmonikern oder dem Chicago Symphony Orchestra Magnet für Zuschauer in aller Welt. Ein kultureller Schatz, um den Deutschland von Kulturschaffenden rund um den Globus beneidet wird.

Konzert im Großen Saal. Foto: Monika Ritter

Öffentliche Förderung heißt künstlerische Unabhängigkeit. In den USA, wo die Orchester auf Sponsoren angewiesen sind, werden die Programme auch nach dem Grad des zu erwartenden Erfolgs gestaltet und tendieren folgerichtig zu den zuverlässig verkaufenden Evergreens.

Die Berliner Philharmoniker mit ihren 130 Planstellen sind selbst verwaltet. Sie entscheiden über die Aufnahme neuer Philharmoniker, wählen sich selbst ihren Chefdirigenten. Seit 2019 ist das Kirill Petrenko.

Chefdirigent Kirill Petrenko. Foto: Stephan Rabold

Er ist erst der siebte Chefdirigent nach Hans von Bülow, Arthur Nikisch, Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan, Claudio Abbado und Sir Simon Rattle.

Der Weg zur eigenen Medienstrategie kam aus der Mitte der Musiker.

Solocellist Olaf Maninger ist der Medienvorstand des Orchesters und dafür verantwortlich, wie das Orchester seine Zuhörer erreicht, sei es wie früher über Fernsehen und Schallplatten oder heute per Livestream. „Ich bin seit 1995 Orchestermitglied und stellte bei den Orchesterversammlungen immer Fragen und machte Vorschläge, bis es hieß, dass ich mich doch wählen lassen solle, wenn ich immer alles besser wisse“, erinnert sich Maninger.

Und ihm war schon damals klar: Digitalisierung, und damit veränderter Medienkonsum, erfordert neue Antworten. Ein eigener Kanal mit Livekonzerten und einem Archiv früherer Aufnahmen schwebte ihm vor.

Solocellist und Medienvorstand Olaf Maninger. Foto: Peter Adamik

Als Maninger das Konzept im Orchester vorstellte, begegneten ihm Sorgen, Ängste, Einwände. „Gestoppt wurde ich aber nicht.“ Er suchte einen Partner für eine Anschubfinanzierung. „Die nötige Technik mit Kameras und Studio kostet natürlich viel Geld.“

Maninger gewann die Deutsche Bank, bestellte auf Messen in Las Vegas und New York die modernste Technik und verkündete irgendwann: Es geht jetzt los. 15 Jahre ist das nun her, und die Sorge, dass es ein verzweifeltes Scheitern auf der Suche nach neuen, mehr Zuhörern wird, ist verflogen.

Der Pionier des Streamens von Klassiklivekonzerten sieht sich mittlerweile neuen Anbietern gegenüber. Maninger sagt:

Wettbewerb ist immer gut, denn er erzeugt auch Aufmerksamkeit für unser Boutiqueangebot.

Mangelte es anfangs in vielen Haushalten noch an ausreichender Bandbreite, um daheim ein schönes Konzerterlebnis zu haben, das an das im Saal zumindest angelehnt ist, können sich heute die Techniker um Christoph Franke sicher sein, dass auf allen Endgeräten viel von dem ankommt, was aus Berlin gesendet wird.

War es zu Beginn noch rund ein Viertel der Datenqualität einer CD, liegen Auflösung und Datenmengen heute beim Vierfachen der CD – und damit bei mehr, als die meisten Menschen zu Hause benötigen. Der nächste Schritt ist „Immersive Audio“, eine Technik, die auch daheim, die richtigen Geräte vorausgesetzt, die Rundumakustik des Saals erleben lassen soll.

Rundumakustik zuhause, fast wie im Saal. Foto: Berliner Philharmoniker

Rund 18 Terabyte Daten schickt Frankes Team nach der Postproduktion eines Konzerts in einem weiteren Studio per Glasfaser in den Keller, dort sind die Aufzeichnungsserver für das inzwischen auf mehr als 800 Aufnahmen angeschwollene Archiv der Digital Concert Hall, die im Haus jeder nur DCH abkürzt.

„Das Archiv ist für den Erfolg der DCH sehr wichtig“, sagt Maninger. Und meint damit nicht allein die Sammlung sämtlicher Livekonzerte der vergangenen 15 Jahre, sondern zunehmend auch ältere Videos aus den vergangenen Jahrzehnten, zurück bis in die Ära Wilhelm Furtwängler.

Vor zehn Jahren fiel der Startschuss für das eigene Label, das sich „Berliner Philharmoniker Recordings“ nennt. Die über Jahrzehnte gewachsene Partnerschaft mit der Deutschen Grammophon wurde deutlich reduziert.

Der zu dem Zeitpunkt amtierende Chefdirigent Sir Simon Rattle hatte einen Exklusivvertrag mit einem anderen Label, die Abstimmungen wurden komplexer, die Wünsche an das Orchester inhaltlich banaler. Den Wunsch, sich über Stars zu verkaufen, wollte das Orchester, selbst ein Star in der Klassikwelt, überhäuft mit Preisen und ausverkauft auf Auslandstourneen, nicht länger umsetzen.

Andrea Zietzschmann ist seit sieben Jahren Intendantin der Stiftung Berliner Philharmoniker. Selbst hartgesottenen Fans dürfte die Konstruktion aus Berlin Phil Media GmbH, dem selbst verwalteten Orchester und der Stiftung komplexer vorkommen als die Partitur eines Werks von Wolfgang Rihm, dem kürzlich verstorbenen Composer in Residence der Berliner.

Intendantin Andrea Zietschmann. Foto: Stefan Höderath

Zietzschmann selbst ist keine klassische Intendantin, dafür sind Rolle von Orchester und Chefdirigent zu wichtig. Sie behält den Überblick, trägt die Verantwortung für die rund 500 Veranstaltungen im Jahr, die in den zwei Sälen der Philharmonie als Eigen- und Gastveranstaltungen zu hören und sehen sind. Jazz, Weltmusik, Kammermusik – und doch immer wieder die Philharmoniker.

Wir sind als Stiftung, die in der Trägerschaft des Landes Berlin ist, zunächst mal ein Orchester und ein Ort für die Berliner Bevölkerung.

Ihre Rolle sei es, ein variantenreiches Musikprogramm anzubieten, das viele Menschen in die Philharmonie lockt, in der sie dann zwangsläufig mit dem Angebot des Orchesters in Berührung kommen.

Die Zeiten, in denen Menschen bei der Eröffnung der Vorverkaufskassen in langen Schlangen ausharrten, sind vorbei. Der Onlineverkauf hat das ersetzt. „Das hat Vorteile für die Kunden, auch wenn wir weniger persönlichen Kontakt zu ihnen haben“, sagt Zietzschmann.

Außenansicht der Philharmonie. Foto: Thorsten Firlus

Dafür gewinnen Stiftung und Orchester Erkenntnisse, welche Programme schneller ausverkauft sind, von wo die Menschen bestellen. Trotzdem können sich Abonnenten auch heute noch darauf verlassen, dass ihre Bestellung per Briefpost bearbeitet wird – oder sie sie persönlich vor Ort abgeben können.

Müssten Andrea Zietzschmann und Olaf Maninger ein Gesangsduo bilden, dann wäre der Text klar: „An erster Stelle steht die künstlerische Unabhängigkeit.“ Was gespielt wird, soll keinen kommerziellen Erwägungen folgen.

Chefdirigent Petrenko hat seit Beginn einen seiner Schwerpunkte auf den wenig bekannten Komponisten Josef Suk gelegt. Das Orchester bestellt wie jüngst mit dem Hornkonzert von Jörg Widmann Werke, die einige Menschen als zeitgenössische Musik eher verschrecken als entspannen – und in denen die DCH auch freie Plätze im Saal entdecken lässt. Die DCH und die Stiftung müssen keinen Gewinn erwirtschaften. Maninger sagt:

Es geht darum, dass wir dieses Angebot am Ende mit einer schwarzen Null erstellen können.

Profit ist nicht wichtig, aber der Wettbewerb in der Musikwelt folgt keinen Höflichkeitserwägungen gegenüber einem in aller Welt geschätzten Klangkörper.

Wären es nicht Beethoven, Brahms oder Bruckner, die Granden der Klassik mit ihren Gassenhauerkompositionen: Man wäre versucht, von Content zu sprechen, den die Berliner erstellen.

Den Bedenken, dass Menschen etwaige Patzer aus den Konzerten aneinanderreihen und das Orchester im Netz verspottet wird, hielten sie mit einer eigenen Strategie entgegen: Der Youtube-Kanal wurde von Beginn an mit vielen Beiträgen aus der Historie geflutet.

Dass sich dann ein Video mit Kieksern, wenn also bei Hornisten oder Trompetern der Ton nicht richtig anspringt, nach oben arbeiten würde, sei unwahrscheinlich, meint Maninger. Aber wie findet ein analoges Orchester via Internet ein neues Publikum?

„Wir hatten Glück mit Facebook“, erinnert sich Maninger. Rasch wuchs die Fangemeinde, heute sind es weltweit

1,7 Millionen

Accounts

Rascher, als die Beteiligten erwartet hatten. Von dort aus in die DCH gelotst, blieben viele als Abonnenten. Die Social-Media-Strategie gehört zu den wichtigsten Bausteinen der künftigen Pläne. Selbst Tiktok wurde geprüft, derzeit sei es aber nicht der richtige Ort für Konzerte und Interviews, meint Maninger.

Damit das Publikum am Fernseher oder auf dem Smartphone ein geldwertes Erlebnis bekommt, investiert das Orchester kontinuierlich in die Technik. Derzeit sitzen bei Livekonzerten sechs Mitarbeiter im Videostudio und steuern die Bildschnitte, die während der Proben erarbeitet wurden und per programmierten Einstellungen im Konzert abgerufen werden. Eine Person folgt der Partitur, denn es kann immer sein, dass ein Dirigent sein Tempo im Vergleich zur Probe ändert.

Mitarbeiter im Studio. Foto: Stefan Höderath

„Es ist denkbar, dass wir bei den Kameraeinstellungen in Zukunft auch KI einsetzen, sollte zum Beispiel ein Musiker nicht richtig im Bild zu sehen sein, weil er im Konzert einige Zentimeter woanders sitzt als in der Probe“, sagt Franke. Das müsse derzeit händisch korrigiert werden, ein Algorithmus könnte diese Arbeit abnehmen.

„Ziel ist natürlich nicht, dass die Zuschauer nicht mehr ins Konzert kommen. Vor Ort in der Philharmonie zu sein ist noch immer ein einzigartiges Erlebnis, das nicht zu ersetzen ist“, sagt Intendantin Zietzschmann. Aber sie will erreichen, dass sich „die besondere Atmosphäre, Spannung und Dramaturgie eines Live-Konzertabends in möglichst allen Facetten vermittelt“.

Digitale Ausspielkanäle. Foto: Berliner Philharmoniker

So wird es neben all der Technik wie den 40 Mikrofonen über den Köpfen der Musiker eben immer auch das Publikum im Saal benötigen, das Teil der Spannung ist, die Musiker zu besonderen Leistungen anspornt.

Einen Changemanager, der skeptische Orchestermusiker überzeugen muss, benötigt das Ensemble nicht. „Für die Musiker hat sich ihr Berufsalltag trotz all der Digitalisierung nicht geändert“, sagt Maninger. Die Proben und Aufführungen sind weiter analog, wie seit Start des Orchesters. Anders ist die Besetzung, eine bunte Mischung aus 30 Nationen, statt wie einst im Wesentlichen Männern aus Deutschland.

Nicht mal auf iPads müssen die Musiker wechseln, sie arbeiten noch mit gedruckten Noten, die sie in den Proben immer bekritzeln. Den USP bewahren, Marketing und Vertrieb modernisieren: So nüchtern scheint sich die digitale Transformation eines der analogsten Produkte der Welt zu beschreiben.

Mit der DCH, Tourneen und dem Schwenk zum eigenen Label mit Aufnahmen in Eigenregie, unabhängig von Plattenfirmen, wollen die Berliner Philharmoniker musikalisch so unabhängig und erfolgreich als Exportartikel bleiben. Fit für die Zukunft, auch dank Offenheit gegenüber der digitalen Transformation und Technologie in Scharouns Bau.

Von einer von Scharouns umsichtigen technischen Lösung hat sich die Philharmonie dann aber doch getrennt: Im sogenannten Green Room im Erdgeschoss waren einst fünf Telefonzellen untergebracht. Vorgesehen waren sie für die Musikkritiker, die unmittelbar nach Konzertende dorthin eilten, um ihre Rezension dem Schriftsetzer in der Zeitungsdruckerei durchzugeben.

Redigatur & Storytelling: Christian Wermke, Bildredaktion: Stefan Hirsch

Quellen Hintergrundbilder: 1: Berliner Philharmoniker, 2/4: Heribert Schindler, 3: Peter Adamik, 5: Stefan Höderath

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