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„Deutsche finden wir derzeit kaum noch“ – Unternehmen im Osten fehlen Fachkräfte, jetzt droht der Rechtsruck

Anfang September wird in Sachsen und Thüringen gewählt, die Länder dürften noch weiter nach rechts driften. Doch die Unternehmer brauchen zwingend ausländische Fachkräfte – und sorgen sich um ihre Zukunft.

von Christian Wermke

23.08.2024 - 15:00 Uhr

Als der Senior die Werkshalle öffnet, wummern die Kompressoren. Per Druckluft stellt Eproplast PET-Flaschen aus Kunststoffgranulat her, für Säfte, Quetschhonig, Autoflüssigkeiten. Modesto Richard Pesavento hat das Unternehmen in Schmalkalden, einer 20.000-Einwohner-Stadt im Südwesten Thüringens, Ende der 90er eröffnet, heute liefert es bis in die USA und nach Kanada.

Der 84-Jährige führt vorbei an ratternden Bändern, begrüßt jeden Mitarbeiter per Handschlag. „Kommt aus der Ukraine“, sagt er dann. Oder: „Aus Syrien.“ Die Hälfte der 110 Beschäftigten stammt aus dem Ausland, aus Afghanistan, der Türkei, Kolumbien, Kuba, Libyen, insgesamt 22 Nationen. Ohne ausländische Arbeitskräfte auszukommen: unmöglich.

Innenstadt von Schmalkalden. Foto: Christian Wermke

Der Fachkräftemangel ist das größte Problem des Unternehmens. An Ingenieure kommen sie bei Eproplast noch ran, es gibt in Schmalkalden eine Fachhochschule.

Aber es fehlen ihnen Maschineneinrichter und Leute fürs Topmanagement. „Deutsche finden wir derzeit kaum noch“, sagt Pesaventos Sohn, der mit zweitem Vornamen Marcus heißt – und sonst genau wie sein Vater.

Die gehen lieber nach Hessen oder Bayern, wo das Lohnlevel noch einmal höher ist.

Dabei bieten sie hier auch eine extra Altersversorgung, einen Fitnessraum, eine Sonderprämie für Betriebszugehörigkeit.

Aber sie bieten neuerdings auch: unsichere Perspektiven. Nur, dass das nicht an den Pesaventos liegt.

Am 1. September wird in Sachsen und Thüringen ein neuer Landtag gewählt, drei Wochen später in Brandenburg. Laut den Prognosen dürfte die AfD im Erfurter und Brandenburger Parlament die stärkste Kraft werden, in Dresden sieht es nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit der CDU aus.

Bei den Pesaventos geht die Sorge um, dass der Standort Ost weiter leidet. „Die AfD ist destruktiv, sie will die demokratischen Strukturen zerstören, das ist die Gefahr“, sagt der Junior. „Wir könnten dichtmachen, wenn die ihre ‚Remigration‘ umsetzen“, meint der Senior.

Immer mehr Unternehmer im Osten positionieren sich vor der Wahl, gründen Aktionsbündnisse, treten in Unternehmensverbände ein, die sich für Weltoffenheit engagieren. Dabei ist das alles eine Gratwanderung: Die 30 Prozent Wählerpotenzial, auf die die AfD in Sachsen und Thüringen kommt, dürften rein statistisch gesehen auch in den Belegschaften sitzen.

Wie lässt sich dieses Dilemma aushalten? Wie gehen die Unternehmen, vom Start-up bis zum großen Konzern, damit um? Und lässt sich der drohende Standortnachteil auch wissenschaftlich belegen?

Produkte von Eproplast. Foto: Christian Wermke

Die Pesaventos, der Name geht auf italienische Urahnen zurück, kommen eigentlich aus NRW. Geschäftsfreunde überzeugten die Familie nach der Wende, in Thüringen einen Werkzeugbau zu eröffnen. „Damals waren die Förderbedingungen viel besser“, erinnert sich der Senior. „Wir stellten Anträge für Investitionen und hatten das Geld sofort auf dem Konto.“ Und: Es gab damals viele gut ausgebildete Fachkräfte.

Heute fehlen sie – und „reduzieren unseren Umsatz und unser Ergebnis ganz stark“, sagt Pesavento junior, der das Geschäft operativ führt. Die Lieferzeit für ihre Produkte mussten sie von vier auf zwölf Wochen ausdehnen. 2022 schrieb das Unternehmen einen Verlust von rund 900.000 Euro, auch wegen der hohen Energiepreise. Sie hatten

1,7 Mio. Euro

an Mehrausgaben

verglichen mit den Jahren zuvor, kamen aus alten Verträgen nicht raus. Im vergangenen Jahr lag der Gewinn wieder bei rund 600.000 Euro, der Umsatz bei knapp 22 Millionen Euro.

Mittlerweile nehmen sie auch Leute ohne Deutsch- und Englischkenntnisse, gruppieren sie dann nach Sprachen: Lateinamerikaner arbeiten unter sich, Ukrainer werden mit Russen zusammengepackt. Trotz allem gibt es Ressentiments gegenüber Ausländern. „Auch bei uns gibt es eine Reihe von Mitarbeitern, die AfD wählen“, sagt Pesavento junior. Wenn er mitbekomme, dass sie bei WhatsApp „irgendwelche deutschnationalen Sachen“ posten, dann spreche er sie gezielt an.

Fachwerk-Romantik in Schmalkalden. Foto: Christian Wermke

Claudia Inda Ramirez kommt ursprünglich aus Chile – und arbeitet bei Eproplast im Vertrieb. Schon länger organisiert sie Ausflüge an der Hochschule, bringt Studenten, Werkstudierende und neue Mitarbeiter zusammen. „Bei einem Kurs hatten wir zuletzt zehn ausländische Teilnehmer und zwei deutsche“, erzählt sie. Die Deutschen hätten nichts mit den Ausländern zu tun haben wollen, gingen allein an einen anderen Tisch.

Das habe ich zum ersten Mal so erlebt – und es hat mich sehr traurig gemacht.

Selbst am Campus höre man jetzt gelegentlich: „Wir sind hier in Deutschland, da sprechen wir Deutsch.“

„Diese Parolen“, sagt Pesavento, „müssen wir uns schnell abgewöhnen, weil wir auf den Welthandel und den Zuzug von ausländischen Mitarbeitern angewiesen sind.“ Deutschland sei nicht mehr das gelobte Land: Wer könne, gehe eben woanders hin.

Das absolute Worst-Case-Szenario für ihn: dass sie nach der Wahl mehrere Mitarbeiter verlieren, hier Kapazität abbauen müssen – und mit Maschinen ins Ausland gehen. „Dann würde die Stadt weniger Gewerbesteuern einnehmen“, sagt Pesavento. Schon fehle Geld bei Kitas und anderen Sozialleistungen. „Diesen Teufelskreis bedenken viele Wähler ja gar nicht.“

In einem weißgrauen Betonklotz, östlich der Dresdener Innenstadt, ist das Ergebnis der sächsischen Biotech-Offensive zu bestaunen: das Bioinnovationszentrum, ein vierstöckiger Bau voller Start-ups und Hidden Champions.



















Vor dem Eingang der Firma Lipotype steht eine Tischtennisplatte, drinnen wuseln Mitarbeiter aus zehn Nationen umher.

Auf 400 Quadratmetern sitzen sie hier, die Hälfte Büros, die andere Labore, in denen sie in Massenspektrometern Lipide analysieren. Das können Fette oder Wachse sein, die in Medikamenten oder Cremes verwendet werden. Die Proben kommen aus aller Welt – innerhalb von zehn Jahren haben sie sich mit ihrer eigenen Analysesoftware zum Weltmarktführer in der Nische entwickelt. Sie wachsen jedes Jahr im zweistelligen Prozentbereich.

Bioinnovationszentrum in Dresden. Foto: Christian Wermke

„Wir machen ein Prozent unseres Umsatzes in Sachsen, 15 Prozent in Deutschland, 40 Prozent im restlichen Europa und 40 Prozent in den USA“, sagt COO Oliver Uecke, der locker zwischen Deutsch und Englisch hin- und herwechselt – die Hälfte seiner 31 Kolleginnen und Kollegen sind keine Deutsch-Muttersprachler.

Das Image der Region spiele für Fachkräfte eine große Rolle. „Vor zwei Jahren habe ich ein Bewerbungsgespräch mit einer Kanadierin geführt. Nach fünf Minuten war das Vertragliche geregelt – danach musste ich 55 Minuten Standortmarketing betreiben“, erinnert sich Uecke. „Kann ich mich sicher im ÖPNV bewegen?“, fragte die Bewerberin damals. Ueckes Antwort:

Dresden ist ein Hightech- und Wissenschaftsstandort, dazu Kultur, alter Barock, 30 Minuten in die Sächsische Schweiz

Die Kanadierin hat den Job angenommen, ist bis heute geblieben. Bei der anstehenden Wahl stehe viel auf dem Spiel. „Als Unternehmer muss man sich klar positionieren“, findet Uecke.

Das Geheimtreffen in Potsdam Ende vergangenen Jahres, auf dem Vertreter der AfD und anderer rechter Gruppierungen über einen Plan massenhafter Abschiebungen gesprochen haben sollen, war für Uecke „ein klarer Beschleuniger“, um aktiver zu werden. „Wenn diese Pläne umgesetzt würden, könnten wir von heute auf morgen schließen.“

Managerin Veronika Piskovatska. Foto: Christian Wermke

Denn das Unternehmen braucht Fachkräfte wie Veronika Piskovatska, die 2017 aus der Ukraine nach Deutschland kam und in Halle ihren PhD in Molekularmedizin machte. Seit knapp drei Jahren ist sie bei Lipotype, wurde vor einem halben Jahr zum Head of Sales befördert. In der Firma fühle sie sich sehr wohl, hier sei alles inklusiv. „Aber das Gefühl der Unsicherheit ist da“, sagt Piskovatska.

Wenn ich sehe, dass die Rechtsaußenparteien populärer werden, macht mir das Angst.

Gerade versucht die 34-Jährige, die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen, aber das Einbürgerungsverfahren stockt, es gebe derzeit bis zu 20 Monate Wartezeit. „Ich möchte an Wahlen teilnehmen, hier auch einen Einfluss haben.“ Ihre Arbeit, ihr Leben, ihre Freunde – alles sei hier in Deutschland. Was würde sie machen, wenn die AfD doch an die Macht kommen sollte, die im Osten mit „Remigration ist Heimatschutz“ auf Plakaten wirbt? „Dann würde ich wegziehen.“

Kevin Kühnert hat ein paar Minuten Verspätung, die Bahn, was auch sonst. Vor der „Farbfläche“, einer Kreativwerkstatt in Altenburg, steht Frank Rauschenbach, SPD-Wahlkreiskandidat im Altenburger Land.

Wie läuft der Wahlkampf bisher? Man erwartet zu hören, wie ihre Themen ankommen, sie die Menschen erreichen. Aber dann sagt der 37-Jährige nur: „Es gab noch keine negativen Vorfälle, darüber sind wir erst mal froh.“

Die Stimmung in der Region ist aufgeheizt. Auf der Landstraße nach Altenburg hat ein Landwirt ein großes Schild vor seinen Hof gestellt. Darauf steht:

Wir könnten gar nicht so viel Scheiße verarbeiten, wie die Regierung produziert.

Anfang August wurde hier ein Brandanschlag auf zwei Häuser verübt, in dem Migranten wohnen, zuletzt der Vereinssitz einer Migrantenorganisation angegriffen.

Treffpunkt „Farbfläche“ in Altenburg. Foto: Christian Wermke

Kühnert, Generalsekretär der SPD, beginnt hier Anfang August seine zweiwöchige Thüringentour. „Wenn man in den Schilderwald blickt, kriegt man den Eindruck, dass sich der Wahlkampf nicht um Thüringen dreht“, sagt Kühnert. Migration, Waffenlieferungen, Weltfrieden – das sind die Themen, mit denen AfD, Linke und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) unter anderem werben.

Wahlplakate in Altenburg. Foto: Christian Wermke

Bei der SPD wollen sie konkreter werden: freies Mittagessen in Kitas und Schulen, 500 Euro Weihnachtsgeld für kleine Renten, Mindestlohn von 15 Euro. Doch bisher scheint das alles nicht zu verfangen: In den jüngsten Umfragen liegt die einstige Volkspartei SPD bei sechs bis sieben Prozent, gleichauf mit den Grünen. „Wir brauchen ums Verderben Migration in diesem Land“, sagt Kühnert. Allein Thüringen benötige bis 2035 rund

350.000

neue Beschäftigte,

um das aktuelle Niveau zu halten. „Selbst wenn man alle Langzeitarbeitslosen mobilisieren würde, fehlen noch immer 250.000 Menschen.“ Man rede hier nicht mehr über drei IT-Kräfte aus Indien, sondern „über große Teile des Arbeitsmarkts“.

2016 war für Sylvia Pfefferkorn das Jahr der Erschütterungen: Bilder aus Heidenau, Clausnitz und anderen Orten, wo Busse mit Flüchtlingen angegriffen, Politiker beschimpft wurden. Unternehmen gerieten zunehmend unter Rechtfertigungsdruck.



„Wer schraubt da eigentlich eure Maschinen zusammen?“, fragten Firmen aus dem Ausland. „Haben die alle braune Hemden an?“ Mit neun Mitgliedern gründete Pfefferkorn den Verein „Wirtschaft für ein weltoffenes Sachsen“. Um all den Negativbildern etwas Positives entgegenzusetzen.

Wir wollten das Image nicht noch schlechter werden lassen.

Anfangs zeigten sich viele Unternehmen skeptisch. Das hat sich heute vollkommen verändert. Viele, die bislang neutral sein wollten, äußern sich jetzt politisch. Die Firma Jenoptik aus Jena hat die Kampagne #BleibOffen gestartet, die Uhrenfirma Nomos in Glashütte positioniert sich schon länger gegen Populismus.

Das hat laut Pfefferkorn auch mit zunehmend verunsicherten Belegschaften zu tun. „Wie steht meine Führungskraft zu bestimmten politischen Positionen, zu rechtsextremen Parteien?“, würden sich viele Mitarbeiter fragen. Ihr Verein ist zwar parteipolitisch neutral – aber fühlt sich den Parteien nahe, „die sich der Demokratie verpflichtet haben“.

Der Zulauf ist enorm: Ende vergangenen Jahres zählte Vizevorstandssprecherin Pfefferkorn noch um die 90, nun sind es

rund 140

Mitglieder.

Kürzlich erklärte der sächsische AfD-Chef Jörg Urban, dass er Sachsen zum unattraktivsten Einwanderungsland Deutschlands machen wolle. Pfefferkorn rät ihm: „Gehen Sie in eine Notaufnahme eines sächsischen Krankenhauses, egal in welches. Verlangen Sie eine Behandlung ausschließlich von Einheimischen. Dann wird keine Behandlung stattfinden können.“ 80 Prozent der Klinikärzte hätten hier einen migrantischen Hintergrund.

Unternehmerin Sylvia Pfefferkorn. Foto: Lars Neumann

Im Umgang mit der AfD-Wählerschaft hat der Verband eine Lernkurve durchlebt: Früher haben sie nicht mit ihnen geredet, heute tun sie es. „Vielleicht sind zehn bis zwölf Prozent Hardcore rechts, aber die anderen gut 20 Prozent sind die Wütenden und Unsicheren.“

Mit ihrem Verein versucht Pfefferkorn die Diskussionskultur zurück in Kantine und Kaffeeküche zu bringen. Dafür geben sie Workshops in den Firmen, bieten Weiterbildungsformate an. Rassismus sei ein Problem, auch in den Mitgliedsunternehmen. Pfefferkorn bietet dann kein Antirassismusseminar an, sondern spricht lieber über den Umgang miteinander.

Oft lässt sie Paare bilden aus Deutschen und Ausländern. Pfefferkorn nennt ein Beispiel, ohne die konkrete Firma zu nennen, auch die Namen hat sie geändert: Karl sollte Ahmed unterstützen, beim Deutschlernen helfen, bei Arbeitsschutzbelehrungen.

Irgendwann stehe ich neben Karl, als er seine Ärmel hochkrempelt. Mir bleibt der Mund offen stehen bei all den eindeutig rechten Tattoos.

Pfefferkorn sprach ihn an: „Karl, wie ist denn das jetzt mit Ahmed zu vereinen?“ Die Antwort: „Das ist ja mein Kollege, der ist cool.“ Auch das sieht Pfefferkorn als Defizit im Osten: Die Zahl der Einwanderer sei viel zu gering, um in einer großen Vielzahl positive Erlebnisse zu generieren.

Semperoper in Dresden. Foto: Christian Wermke

„Gewalt im Gedankengut wird zu Gewalt in der Sprache, wird irgendwann zu Gewalt im Tun“, sagt Pfefferkorn. Woher kommt die große Enttäuschung so vieler Menschen? Pfefferkorn macht das an drei Punkten fest:

  1. Der Bruch der eigenen Biografie durch die Wende.
  2. Die fehlende Selbstwirksamkeit. Demokratie spiegele sich bei manchen ausschließlich in der Möglichkeit zu wählen. „Aber es gibt noch so viele andere Facetten: Man kann einen Verein gründen, sich ehrenamtlich engagieren, sich selbst zur Wahl stellen.“
  3. Die fehlende Anerkennung der biografischen Leistungen – denn diesen Wandelprozess hätten vor allem die Ostdeutschen selbst mitgetragen und gestaltet.

Es sind ähnliche Befunde, die der Soziologe Steffen Mau in seinem jüngsten Buch „Ungleich vereint“ benennt. Er beschreibt „postsozialistische Dynamiken wie Umbrucherfahrung und Transformationsschocks“ als mächtige Generatoren der Ungleichheit, die es noch immer zwischen Ost- und Westdeutschen gebe.

Spezielle Branchen, die eher rechte Parteien wählen, gibt es laut Pfefferkorn nicht. „Klein- und Kleinstunternehmen, die in der Coronazeit sehr stark wirtschaftlich gelitten haben, sind vielleicht eher motiviert, Parteien zu wählen, die einfache Lösungen versprechen“, sagt sie. Dazu zählten auch prekäre Selbstständige, die sich selbst „vielleicht nicht mal den Mindestlohn auszahlen können“.

Anfang des Jahres suchten Pfefferkorn und ihre Vorstandskollegen nach Studien, die zeigen, welche wirtschaftlichen Auswirkungen rechtsextremer Populismus auf einen Standort haben kann.



Sie wurden nicht fündig. Die Datenlage ist extrem dünn, es lässt sich nicht statistisch belegen, wie viele potenzielle Einwanderer sich wegen der politischen Tendenzen gegen Ostdeutschland entschieden haben. Es gibt bislang nahezu keine Forschung auf diesem Gebiet.

2021 hatte das Ifo-Institut errechnet, dass wegen der Pegida-Proteste zwischen den Jahren 2015 und 2017 weniger Studierende aus anderen Bundesländern nach Dresden gekommen seien – und sich auch der Zuzug ausländischer Studierender signifikant verringert habe. Eine neue Annäherung versuchte jüngst das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW): Zwischen Anfang März und Ende April 2024 wurden für das Zukunftspanel 926 Firmen befragt, 114 davon haben ihren Sitz im Osten. Die Autoren schreiben:

Der Anteil der deutschen Unternehmerschaft, die im Erstarken der AfD in politischen oder ökonomischen Fragen ein Risiko sieht, überwiegt die Chancenwahrnehmung um ein Vielfaches.

Besonders vor der Europawahl sahen die Unternehmen in der AfD ein Risiko für den Fortbestand der EU und des Euros – westdeutsche stärker als ostdeutsche. Das IW hat auch errechnet, was ein Austritt Sachsens aus der EU bedeuten würde – rechtsextreme Kräfte nennen das gern den „Säxit“. „Wäre Sachsen 2016 ausgetreten, läge die geschätzte Wirtschaftsleistung heute um 8,6 Prozent niedriger“, erklärt Knut Bergmann vom IW. Das entspräche einem

Minus von

11,3 Mrd. Euro

Beim Blick auf den Arbeitsmarkt zeige sich zudem, dass der „Beschäftigungszuwachs vor allem auf ausländische Beschäftigte zurückgeht“, wie Bergmann erklärt. Von 2022 auf 2023 waren demnach rund 7500 weniger Deutsche auf dem sächsischen Arbeitsmarkt, gleichzeitig kamen 14.800 neue aus dem Ausland dazu.

Die heftigen Geburteneinbrüche beschreibt auch Soziologe Mau: Seit 1989/90 ist die Bevölkerung im Osten (Berlin ausgeklammert) von knapp 15 Millionen auf heute 12,6 Millionen geschrumpft. Im Westen hingegen wuchs sie im gleichen Zeitraum um zehn Prozent.

AfD-Wahlplakat in Thüringen. Foto: Christian Wermke

Einen Ost-West-Unterschied gibt es bei den Unternehmen im Umgang mit der AfD: Westliche Unternehmen sind eher bereit, sich öffentlich zu positionieren (die IW-Experten nennen das „Loud Voice“), während ostdeutsche Betriebe häufiger eine „Soft Voice“-Strategie verfolgen, sich also eher intern gegen die Partei aussprechen. Während sich im Westen jedes zweite Unternehmen öffentlich gegen die AfD stellt, ist es im Osten weniger als ein Drittel.

Gerade Konzerne tun sich mitunter schwer mit einer politischen Positionierung. Viele haben börsennotierte Ankeraktionäre, die Werke im Osten sind in der Regel nicht die Zentralen, sondern nur einer von vielen Standorten.

Uwe Horn ist trotzdem zum Gespräch bereit. Seit fünf Jahren ist er Geschäftsführer und Arbeitsdirektor bei IAV, einem Entwicklungsdienstleister für die Autoindustrie, der zur Hälfte dem VW-Konzern gehört. Er empfängt am IAV-Standort Stollberg, einer Stadt im Erzgebirge zwischen Chemnitz und Zwickau.

IAV-Mann Uwe Horn (r.). Foto: Linkedin

„Wir brauchen gut qualifizierte Leute, und wir sind ein internationales Unternehmen“, sagt Horn. Sie benötigten Weltoffenheit, um das Geschäft global betreiben zu können, offene Märkte, einen offenen Arbeitsmarkt. „Die Partei, die das garantieren kann, oder die Politiker, die das unterstützen, sind uns willkommen“, erklärt Horn. Und die, die etwas anderes wollten, seien es nicht.

Die Kernfrage bei IAV sind derzeit nicht Fachkräfte oder neue Mitarbeiter – sie müssten vielmehr die Belegschaft in der Transformation mitnehmen. Rund 1200 wurden bislang „transformiert“, fast ein Viertel. „Wir sind ein Unternehmen inmitten einer Umbruchphase, werden Personal reduzieren“, sagt Horn, der selbst kurz vor der Rente steht.

In Stollberg soll es keinen Abbau geben, sondern natürliche Fluktuation. Trotzdem bieten sie im September ein Aufhebungsprogramm für 500 Freiwillige an. Von den Mitarbeitern werde das „traumatisch“ aufgenommen.

Die Nervosität ist groß wie in der ganzen Industrie. Und gerade in solchen Umbruchzeiten haben es Demagogen leichter, als wenn die Sonne scheint.

Die politische Großwetterlage in Sachsen bilde sich immer auch in den Gremien ab, in der Belegschaft, den Betriebsräten. Eigentlich komme heute kein Unternehmen mehr drum herum, sich politisch zu positionieren.

„Ich bin ein großer Verfechter davon, dass wir unsere Demokratie und die freiheitlich-demokratische Grundordnung mit Mann und Maus gegen äußere Einflüsse verteidigen, wo auch immer sie herkommen“, sagt Horn.

Er stoße auf immer mehr Menschen, die in eine „Grundunzufriedenheit“ rutschten, die schnell laut und launisch würden. „Da scheinen mir die Maßstäbe seit Corona verloren gegangen zu sein.“ Ab und an sollte man lieber einen Schritt zurückmachen und sich fragen, wie wertvoll der eigene Arbeitsplatz eigentlich sei.

Er hat auch jemandem in seinem erweiterten Freundeskreis, der in der Jugendorganisation der NPD war. „Niemals würde jemand, der ihn nicht sehr genau kennt, auf die Idee kommen, was da in der DNA drin ist.“ Aber Horn versucht mit ihm im Gespräch zu bleiben, um die Gedankengänge nachvollziehen zu können, die Radikalität. „Generell spüre ich eine Radikalisierung in unserem gesamten politischen Spektrum.“

Eine, die sich in den kommenden Wochen auch in den Wahlergebnissen zeigen könnte – mit all den Folgen, die das für kleine wie große Unternehmen mit sich bringt.

Fotos & Storytelling: Christian Wermke, Redigatur: Sven Prange, Bildredaktion: Charlotte Stüttgen

Quellen Hintergrundbilder: Getty Images (1), picture alliance/dpa (5)



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